After Occupy

Die Zukunft der Urbanistik

„Allem voran sei eine Hypothese gesetzt: die von der vollständigen Verstädterung der Gesellschaft. Wir werden für diese Hypothese Beweise erbringen und sie mit Fakten untermauern müssen. Unsere Hypothese enthält eine Definition. Wir wollen also die Gesellschaft eine ,verstädterte' nennen, die das Ergebnis einer vollständigen – heute potentiellen, morgen tatsächlichen – Verstädterung sein wird.“ (Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte)

Urbanisierung ist aktueller denn je. Alle Räume müssen produktiv werden. Sogar die Ruinen der stillgelegten industriellen Gebiete werden zu Galerien und Hotels umfunktioniert. Raum ist nicht mehr ein Ort, wo man verweilt, sondern er wird zu einer prothetischen Unterstützung der menschlichen Produktivität. Vor vier Jahren habe ich selbst ein Projekt initiiert, das den Titel „Kreativer Raum“ trug. Das Projekt untersuchte die Problemlagen der Urbanistik in Ostasien und schloss mit dem Sammelband Creative Space: Art and Spatial Resistance in East Asia (2013) ab. Als vorläufiges Ergebnis lässt sich sagen: Der Urbanisierungsprozess in Ostasien ist rigoros und aggressiv, und er scheint daher auch unumkehrbar zu sein.

Am Anfang des Projekts wollte ich die Möglichkeit von Raum in Bezug auf unser urbanes Leben untersuchen. Ich wollte die Frage stellen: Wie verändert sich unser Leben unter den Bedingungen heutiger Urbanistik? Um die Frage zu beantworten, wollte ich ursprünglich eine theoretische Studie von Immanuel Kant bis Peter Sloterdijk machen. Der Wendepunkt des Projekts kam 2010 als Rem Koolhass an einem Wettbewerb zum Bau eines der größten Kunstzentren in Hongkong teilnahm. Ich habe mich damals gefragt: Wie können diese Leute, die keine Ahnung von diesem Ort haben, unsere Stadt gentrifizieren – insbesondere ein Architekt, der für seine Ideen zur generic city bekannt geworden ist?

Kunst- und Kulturindustrie werden heute zu Organen der Gentrifizierung. KünstlerInnen spielen mehr und mehr eine wichtige Rolle darin, die sozialen Milieus unseres Lebens zu schaffen. Nicht die Produktion und Reproduktion der Kunstwerke, sondern der Geschmack und Style, wie er in Lebensmitteln, Wein, Kleidung, Autos und Möbeln zum Ausdruck kommt, bestimmt unseren Umgang mit der Kunst. Die traurige Geschichte der Gentrifizierung ist immer gleich: Zuerst werden die EinwohnerInnen von der Polizei vertrieben, dann werden geschlossene Wohnanlagen gebaut, neben denen sich „gemütliche“ Restaurants, Galerien und Museen ansiedeln. Die KünstlerInnen und DesignerInnen werden eingeladen, für ein paar Jahre Galerien zu einem relativ vernünftigen Preis zu benutzen. Dadurch steigt der Immobilien- und Mietpreis, den sich letztlich nur noch besser Verdienende leisten können.

Wie der Kunstkritiker Thiery de Duve gezeigt hat, wurde in der zeitgenössischen Kunst der Begriff der Schönheit aus dem 18. Jahrhundert, wie er noch von Immanuel Kant vorgeschlagen wurde, durch jenen der Kunst ersetzt. Kunst wird seitdem zu etwas Generischem, zu einer Oberfläche, auf der neue Formen der Akkumulation entstehen. So wurde der Funktionalismus lange Zeit in seiner ästhetischen Dimension übersehen, insbesondere in der Kulturindustrie, wie sie von Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ diskutiert wurde. Die neue Kombination aus Ästhetik und Funktionalismus, wie sie sich am Beispiel eines MacBook Air zeigt, konstituiert nunmehr eine neue Politik der Wahrnehmung und Erfahrung. Aus diesem Grund wäre es notwendig, heute an Henri Lefebvre und seine Kritik gegenüber Le Corbusier zu erinnern. So schrieb Lefebvre: „Die Straße hat Funktionen, die Le Corbusier außer acht ließ: Sie dient der Information, ist Symbol und ist zum Spiel notwendig. Auf der Straße spielt man, lernt man. Die Straße ist Unordnung.“

Die Geschichte geht weiter, insbesondere wenn man daran denkt, dass der Diskurs von und um Richard Florida zu einem Paradigma der heutigen Urbanistik geworden ist. Ihre Frage lautet: Wie kann ein spielerisches, von Kunst und Design angereichertes Viertel produktiver gemacht werden als andere?

Die Produktivität des Widerstands

Der zweite Anstoß für meine Überlegungen kam von der Occupy-Bewegung, die am 15. Oktober 2011 mit der versuchten Besetzung der Wall Street begonnen hatte und sich kurz darauf über den gesamten Globus ausweitete. Ich war zu diesem Zeitpunkt in Hongkong, wo ich sofort für mehr als drei Monate in die Bewegung hineingezogen wurde. Während dieser drei Monate habe ich mit anderen TeilnehmerInnen zusammen David Graeber, Georg Simmel, Bernard Stiegler, Karl Marx und Adam Smith gelesen, um eine kritische Geschichte der Ökonomie weiterzudenken. Zur gleichen Zeit wurde mir klar, dass es der Occupy-Bewegung in Hongkong nicht um den Kampf gegen eine abstrakte Entität namens Kapitalismus, sondern ganz konkret um ein Problem des Raums ging. So betrifft die globale Finanzkrise nicht nur den Aktienmarkt, sondern genauso Urbanisierung und Gentrifizierung. Das wird ersichtlich, wenn wir an die Hypothekenblase in Großbritannien und in den USA denken. Die Finanzwelt ist nicht virtuell, sie will bloß Länder virtualisieren, um mit ihnen spekulieren zu können. Wie die Finanzialisierung ist auch die Urbanisierung keine konkrete Substanz, sondern ein Prozess der kreativen Destruktion: zunächst durch die Urbanisierung ländlicher Gebiete, dann durch die konstante Gentrifizierung der Stadtgebiete.

Das besondere Problem in Ostasien, insbesondere in Hongkong, ist der Umstand, dass der freie Markt immer schon ein Mythos des wirtschaftlichen Triumphs war. Zudem kommt es zu einer ständigen Verwechselung zwischen den Interessen der Kommunistischen Partei Chinas und dem Sozialismus beziehungsweise Kommunismus im Allgemeinen. Dadurch wird jede Intervention der Partei als ein Schritt in Richtung Sozialismus verstanden. Die Ideologie dient aber in erster Linie dazu, Angst zu schaffen vor jeglichen alternativen Lebensformen und vor allem einer anderen Wirtschaftsentwicklung. Mittlerweile kann sich die Miete in Hongkong in einem Jahr verdoppeln, Grundstückspreise steigen alle drei Monate. Leute meiner Generation sind dazu verurteilt, ihr ganzes Leben wie SklavInnen zu arbeiten, um sich eine kleine Wohnung kaufen zu können. Es gilt hier auch zu beachten, dass Gentrifizierung nicht nur Wohngebiete betrifft, sondern alle öffentlichen Räume. Gentrifizierung ist durchdringend! Es bleibt nur die Adaptation der Räume, und diese Räume werden zu Grenzen beziehungsweise zu neuen Techniken der Kontrolle. Klar, wir können immer etwas anderes tun, um unser Leben zu bestreiten, aber egal was wir machen, wir haben unser Recht verloren, anders zu leben.

Durch die Erfahrungen mit der Occupy-Bewegung hat sich für mich die Fragestellung geändert: Wenn Kunst schon das Organ der Gentrifizierung ist, was kann sie dann noch ausrichten? Occupy bedeutet, Räume zu besetzen, Räume als öffentliche Räume zu reklamieren. Das Problem ist allerdings nicht, dass die Occupy-Bewegung in dieser Hinsicht unproduktiv wäre, sondern vielmehr zu produktiv. Diese Produktivität hat aus der Bewegung ein Spektakel gemacht. Und ein Spektakel hat die Fähigkeit, sich zu reproduzieren. Das hat nicht mit dem Kunstmarkt zu tun, sondern vielmehr mit der Rolle der Kunst im Prozess der Gentrifizierung selbst. Kunst ist wahrscheinlich flexibler als das Kapital und kann alle menschlichen Lebensbereiche in sich aufnehmen. Wenn Kunst mit dem Kapital zusammenspielt, können sie gemeinsam beinahe alles absorbieren. So wurden selbst die Bemühungen der Situationistischen Internationale in den 1970er- und 1980er-Jahren, den Kunstbegriff aufzulösen, wiederum in den künstlerischen Produktionsprozess aufgenommen. Wir haben etwas Ähnliches bei der Berlin Biennale 2012 gesehen, welche versucht hat, aus der Occupy-Bewegung ein Kunstwerk zu machen. Das stellt wiederum die Frage: Wie kann man eine neue Vision des gemeinsamen Lebens entwickeln?

Nach Occupy – einer öffentlichen Ruine entgegen?

Eines der Projekte, das mich wirklich angespornt hat und welches mir hilft, diese Frage weiter zu diskutieren, ist das Youth Autonomous Lab in Wuhan, China. Einige FreundInnen haben zusammen ein Haus in einem Außenbezirk gemietet und dort mit alternativen und autonomen Praxen experimentiert, die stark vom Anarchismus beeinflusst sind. Ich hatte die Möglichkeit, mit Maidian, einer der OrganisatorInnen des Labs, über das Problem des Spektakels zu diskutieren. Die Frage für uns war, wie man sich von dem Spektakel verabschieden kann? Dem Projekt in Wuhan geht es nicht so sehr darum, das Spektakel zu bekämpfen, sondern aus diesem zu flüchten, Fluchtlinien zu ziehen – nicht in Richtung einer spirituellen Welt, sondern einer öffentlichen Ruine entgegen, einer Ruine ohne Produktivität.

Eine Ruine ist wahrscheinlich ein Ort, an dem man womöglich eine Ästhetik ohne Kunst erleben kann. Man kann sie erfahren, aber es gibt keine Möglichkeit, sie zu besitzen. Die Ruine ist die Vergangenheit, wie schon Georg Simmel bemerkte, sie ist der Triumph der Natur gegenüber den spirituellen Formen des menschlichen Werks. Für Simmel ist die Ruine einer der friedvollsten Orte, weil er einem das Gefühl des „Nach-Hause-Zurückkehrens“ vermittelt. Dieses Gefühl des „Heimlichen“ steht im Gegensatz zu Freuds Konzept des Unheimlichen. Hier findet sich ein dialektischer Moment in der Ruine: Einerseits symbolisiert sie den Zerfall der Zivilisation, was in uns ein unheimliches Gefühl hervorruft; andererseits gibt sie uns das Gefühl des ewigen Friedens.

Maidian hat in der Diskussion vorgeschlagen, die öffentliche Ruine zu reparieren. So gibt es zum Beispiel eine Uferpromenade in der Nähe der Wuhan Universität. Als ein junger Mann beim Schwimmen gestorben war, musste die Universität die Haftung übernehmen und hat daraufhin beschlossen, die ganze Uferpromenade zu schließen. Die Uferpromenade wurde aufgegeben und ist zur Ruine geworden. Was Maidian und seine KameradInnen nunmehr versucht haben, war die Ruine wieder zu öffnen, indem sie Willkommenstafeln und ein neues Leitsystem angebracht haben. Ich verstehe dies als eine kritische Fragestellung: Was heißt es letztlich, eine öffentliche Ruine zu reparieren? Wie kann man verhindern, dass durch die Renovierung lediglich die Produktivität an den Ort zurückkehrt, sprich die Ruine erneut zum Spektakel wird?

Die Ruine gibt uns eine Empfindung der Melancholie und einen Eindruck der Fragilität der menschlichen Existenz, wie Walter Benjamin in seinem Passagenwerk schreibt. Ich würde mich gerne von seiner dialektischen Idee verabschieden. Vielleicht müssen wir nicht länger einen solchen dialektischen Moment finden. Vielleicht sollte die dialektische Konfrontation nicht eine Ausnahme sein, sondern eine immanente Existenzweise. Es gibt keinen spezifischen Ort des Widerstands, weil er nämlich überall ist.

Yuk Hui ist Philosoph und Aktivist mit Schwerpunkten im Bereich der Philosophie des Digitalen sowie neuer sozialer/künstlerischer Bewegungen in Ostasien. Er lebt in Berlin und Lüneburg.

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