Angst ist stumm. Liebe singt 

Wir weinten in Mauthausen angesichts der Taten der Nationalsozialisten. Wir waren schockiert, umarmten uns, schluchzten, hörten den Herzschlag der Frauen, die ebenfalls zitterten. Wir weinten in Barcelona auf dem Platz eines ehemaligen Frauengefängnisses, wo heute ein berühmtes Einkaufszentrum steht, inmitten touristischen Lärms, zwischen Menschen, die negierten, was dort noch bis Ende der 1950er-Jahre Realität unter Franco war. Das Gefängnis war nicht mehr sichtbar. Niemand wollte es jemals an diesem Platz gesehen haben. Doch warum hätte man das Gefängnis stehen lassen sollen? 

Straßen von Barcelona

Susanne Scholl vermittelte uns warum. Sie erklärte, dass Gedenken mehr ist als ein „Erinnern“ an unsere getöteten Vorfahren. Gedenken hat die Aufgabe, den Bezug zum Präsens, dem Jetzt und Hier, aufzuzeigen. In Zeiten wie diesen, in denen abermals Hetze gegen die Schwächsten in der Gesellschaft salonfähig wird, ein sehr wichtiger Ansatz. Zudem bemerkten wir Frauen spätestens in der Gedenkstätte Mauthausen sehr klar, warum Gedenkstätten zu erhalten wichtig ist: Sie sind der Beweis dafür, dass es wirklich passiert ist. Davor zu stehen, sie zu sehen. Das hat mit uns allen etwas gemacht, einen Funken in uns gezündet, unser Bewusstsein wachgerüttelt. Einen Teil ins uns sprechen lassen, den wir Frauen lange nicht hören wollten. 

Da wurde es uns allen klar: Die Verfolgung ist das einzige, das alle Roma in Europa miteinander teilen, wirklich gemeinsam haben. Eine traurige und zugleich große Erkenntnis. Die Romagruppen sind sehr verschieden. Sie haben verschiedene Religionen, Musikstile, Kulturen, Sprachdialekte und Traditionen. Doch dieser eine Punkt zeigt, was die Roma in Wirklichkeit sind: eine Opfergemeinschaft, verbunden durch die Verfolgung in Geschichte und Gegenwart. 

Nur das das Wort „Opfer“ verwendet niemand so gerne. Viele ZeitzeugInnen lehnen das Wort ab. Zurecht. Sie fühlen sich als Personen, die das unsägliche Grauen überlebt haben, davon beleidigt. Sie sind „Überlebende“, und ihre Nachkommen sind die Nachfahren der Überlebenden. Sie wollen keine Opfer sein. 

Einen anderen Weg der Bewältigung zeigte uns Lily Habelsberger, deren Mutter das Konzentrationslager überlebt hatte und ihre Kinder im Geiste des bestmöglichen Schutzes erzog. Man könnte auch sagen: im Geiste der Angst. Lily sagte: „Der Holocaust ist immer bei mir, rund um mich herum.“ Sie erzählte, wie ihre Mutter sie auch im Sommer viel zu warm anzog, weil sie die Kälte des „Appell-Stehen“ im Lager niemals abschütteln konnte. Sie erzählte von Jahren der Psychotherapie, in denen sie verarbeitete, wie sie ihre Mutter hatte leiden sehen. Sie erzählte von einer Gruppe, in der sie teilnimmt – dort treffen sich die Kinder von Holocaust-Überlebenden mit den Kindern von so genannten „Täterfamilien“. Lily sagte: „Wir müssen all das hinter uns lassen, es gehen lassen, wenn wir jemals wieder gesund werden wollen.“ 

Wir fragten uns danach, ob wir in irgendeiner Form „krank“ sind und mussten schließen erkennen: ja. Wir sind krank. Krank vor Angst. Angst, die wir seit Generationen weitergeben. Angst, die nicht einfach vergeht. Angst als Schutz unserer Community. Als Schutz unserer Herzen und Psyche. Sie hüllt uns ein, sie hält uns zurück, sie lähmt uns. Und dennoch – sie einfach aufzugeben, käme einem Verrat an unseren Vorfahren gleich. Zumindest fühlt es sich so an. 

Wir lachten auch. Viel sogar. Abends im Hotelzimmer, wenn wir versuchten, über die banalen Dinge des Alltags zu reden – Schuhe, Mode, Musik, Parfum. Doch es gelang uns nie, banal zu bleiben. Da war die Geschichte von D., die aus einem lächerlich kleinen Dorf am Balkan kam. Sie lebt heute nicht mehr dort, und darüber ist sie sehr froh. Sie wird dort geächtet, weil ihr Mann kein Roma ist. Doch sie wird auch geächtet, weil ihr Wesen, ihre künstlerische Anmut, ihre liberale Haltung nicht hineinpasst in die streng abgegrenzte Mentalität der Menschen in diesem Dorf. Ja, sie vermisst ihre Familie, doch vorher, als sie noch dort lebte, da hat sie die Freiheit vermisst. 

Da war die Geschichte von I., die D. mit Herzklopfen lauschte, denn sie war nicht bei Roma aufgewachsen, war frei von all den Stereotypen, die andere aus der Roma-Community in sich trugen – und doch lauschte sie dieser Geschichte nicht nur mit Neugier, sondern auch mit einer gewissen Sehnsucht nach dem bisschen „Roma“, dass ihr bisher im Leben negiert worden war und dass sie letztlich auch in diesen Austausch mit uns geführt hatte. 

Wir sahen uns reihum an – und bei alledem, was wir zu erzählen hatten, war genau das Gegenteil davon, was uns verband. Das Schweigen, dieses eiserne konsequente Schweigen, dass wir alle aus unseren Familien kannten. Ein Schweigen, das in sich so konsequent ist, dass auch darüber selbst nicht geredet werden kann. Ein Schweigen so stumm, dass es die Ohren betäubt. 

Wir Frauen kannten es alle von zu Hause. Im Laufe unseres Austausches lernten wir, dass dieses Schweigen viele Gründe hatte.
Ein Grund war und ist, dass über diese schmerzvollen Dinge zu sprechen, für die meisten unmöglich war, ohne das Gefühl von damals wieder lebendig zu machen. Ein weiterer Grund war, dass
sie uns keine Angst machen wollten, unsere Vorfahren, uns nicht belasten wollten. Manche gingen sogar so weit und sprachen nie mehr ihre Muttersprache Romanes, um ihren Nachfahren, den „Kleinen“, das Stigma zu ersparen, dass sie zuvor fast das Leben gekostet hätte. 


Doch das Schweigen schützte uns nicht. Wir Frauen waren uns einig. Letzten Endes waren wir ein Haufen ziemlich verschiedener Frauen. Doch wir spürten vom ersten Moment an, dass wir etwas ganz Gravierendes gemeinsam haben. Etwas, über das keine von uns bisher viel geredet hatte, vielleicht auch, weil wir es nicht begreifen konnten, etwas, was man auch nur sehr schwer in Worte fassen kann. 

Das Schweigen suchte sich seinen Weg in unsere Herzen. Dort ist ein Platz, an dem wir sehr lange geschwiegen haben. Ein stummer Platz, der erst jetzt bei diesem Treffen mit Worten gefüllt wurde. Wie ein Damm, der bricht, war diese Stille, die nun schreien wollte. Diese Kraft kann niemand alleine aufbringen. Es braucht andere, die einen dabei stützen und umarmen. Es braucht ein Gegenüber, das tatsächlich versteht, was passiert. So war jede Romni ein Geschenk für die andere. Wir haben aufgehört zu schweigen, jetzt, wo wir wussten, dass dies uns Romnja allesamt betrifft, das dies kein Schmerz ist, keine Melancholie die jeder einzelnen innewohnt, sondern die Auswirkung eines dunklen „Zaubers“ den unsere Großeltern einst schufen, um uns zu schützen. 

Als wir das erkannt hatten, tanzten wir gemeinsam auf den Straßen Spaniens, um das Grauen, das uns beschäftigte, abzuschütteln, mit jeder Bewegung, jeder Drehung. Wir sangen laut zu den Klängen der Gipsy Kings, denn wir Roma wissen: Angst schweigt, aber Liebe singt. Wir lachten laut und hysterisch, um das Gefühl aus uns herauszuschreien, das Gefühl, das nun durch unser neu erworbenes Wissen Gewissheit war, die Gewissheit, dass wir alle geprägt waren von diesem dunklen „Schutzzauber“ unserer Vorfahren, der gemeinhin „Trauma“ genannt wird. 

Im nächsten Schritt erkannten wir aber, dass nicht nur die Roma und Sinti in dieser Art und Weise von der Geschichte betroffen sind und waren. Birgit Pichler war eine besondere Sorte von „Guide“. Sie erzählte uns von ihrer Familie, die, wie sie es nannte , eine Täterfamilie gewesen war. Bis heute spricht ihre Familie vom verstorbenen Onkel als Opfer, obwohl sie alle wissen, dass er ein SS-Mann war. Der Holocaust hat nicht nur die Familiengeschichte der Opfer beeinflusst. Sie selbst wurde deshalb Mauthausen-Guide, um die eigene Geschichte besser zu verarbeiten und zu verstehen. 

Wir Frauen konnten ihr nur zustimmen, als sie zum Abschluss sagte: „Die Geschichte all jener Familien ist in viele kleine Stücke zerbrochen, und nur wenn die Nachkommen von Opfer und Täterfamilien sich austauschen, kann dieses zerrissene Bild wieder vollständig werden.“ 

Am Ende weinten wir wieder – vor Freude. Weil wir gefunden hatten, was wir gesucht hatten. Weil wir jetzt benennen konnten, was uns so lange gequält hatte. Weil wir als einzelne starke Frauen in diesen Austausch gegangen sind, aber nun am Ende mit neuen Verbündeten, Freundinnen ja, wir würden sagen, Schwestern wieder herauskamen. 

Einen Teil von der Angst, mit der wir kamen, haben wir irgendwo in Spaniens Straßen verloren. 

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