Das Ausmaß der Gewalt

In England ging es trotz kühlem Sommer heuer heiß zu: Mitten im Urlaubsmonat August wurden mehrere englische Städte Zeuginnen von tagelangen Riots, die größten seit den 1980er Jahren. Die Berichterstattung überflutete uns mit Bildern von Plünderungen und Demolierungen. Gestürmt, ausgeraubt und/oder niedergebrannt wurden Geschäfte – aber auch das „traute Heim“, das Urbild des Privaten, wurde nicht verschont.

In England ging es trotz kühlem Sommer heuer heiß zu: Mitten im Urlaubsmonat August wurden mehrere englische Städte Zeuginnen von tagelangen Riots, die größten seit den 1980er Jahren. Die Berichterstattung überflutete uns mit Bildern von Plünderungen und Demolierungen. Gestürmt, ausgeraubt und/oder niedergebrannt wurden Geschäfte – aber auch das „traute Heim“, das Urbild des Privaten, wurde nicht verschont. Lose Gruppen von mehrheits- wie minderheitsangehörigen Jugendlichen – ein Charakteristikum, das auf neue Gemeinsamkeiten und Verbrüderungen hinweist – organisierten sich dezentral und begaben sich in die Schlacht mit der Polizei. Angesichts des plötzlichen Ausbruchs breitete sich in den Mainstreammedien eine Erklärungssuche aus, deren Hilflosigkeit beklemmend war: Auffallend daran war der notorische Rückgriff von sogenannten Qualitätsmedien auf Therapeut_innen, die auserkoren wurden, „dafür“ Erklärungen zu liefern. Die Fragestellungen waren derart simplifiziert, dass viele der befragten Therapeut_innen dem eng gestickten Erklärungsmuster durch sozialkritische bis emanzipative Theorien zu entkommen versuchten und mitunter verkündigten, der Neoliberalismus hätte ausgedient.

Was für ein (Medien-)Spiel ereignete sich vor unseren Ohren und Augen? Hatten sich alle Sozialwissenschafter_innen ausnahmslos wie kollektiv abgesetzt? Zeigte sich darin der elaborierte (sich selbst wiederum ausschließlich als Neutralität wahrnehmende) Wille vieler Medien, Positionierungen zu vermeiden; die Schwäche bzw. die Verstricktheit der „vierten Gewalt“; oder aber eine ramponierte Fähigkeit, Gesellschaft überhaupt jenseits von den losen Verbindungen des Individuums zu denken?

Was fehlte, waren weniger Antworten als Fragen: Wird hier der Wut und dem Ärger über die sozialen Verhältnisse Luft gemacht? Veranschaulichen die Plünderungen eine Auslegung des neoliberalen Ideologems „Es gibt nur Individuen, und ihre Verhältnisse zueinander sind Bereicherung oder Krieg“ von unten? Geht es hier um eine junge Generation, die einzig als Konsument_innen angerufen wird und die sich als solche das nimmt, was sie sich nicht mehr zu erarbeiten vermag? Ist Gewalt dabei Kommunikationsmittel, Mittel zum Zweck, Alarmzeichen, Ausweg, Notwendigkeit oder Exodus? Vor allem aber: Welche unsichtbare, alltägliche, strukturelle Gewalt spiegelt sich in solchen Riots bzw. wird dadurch sichtbar gemacht?

Woran es in den Medienanalysen mangelte, ist weniger die Erwähnung, von wo die Gewalt ihren Anfang nahm – eine massive Gewaltausschreitung der Polizei nämlich, die man noch zusätzlich dem Opfer zuschob. Was fehlt, ist die Reflexion über das Ausmaß der Gewalt, das nicht-privilegierte Menschen täglich erleben, und eine Berichterstattung jenseits der Dreieckbeziehung Opfer, Täter, Retter. Was fehlt, sind Handlungen, die abseits von den zu mythologischen Dispositiven mutierten Elementen Konkurrenz, Flexibilisierung, Ökonomisierung von Umwelt und Existenz usw. vollzogen werden. Was fehlt, ist ein Zukunftshorizont, in dem sinnvolle Tätigkeit, gesicherte Existenz und gute Arbeitsbedingungen Selbstverständlichkeiten sind. Was fehlt, ist ein Alltag abseits des zynischen „Jeder Generation ihre Perspektivenlosigkeit“, damit wir der Gesellschaft als kollektivem Handlungsort und positivem Bezugspunkt nicht weiter verlustig gehen.

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