Das ist Nekrokapitalismus!

Wenn einige der heutigen kapitalistischen Praktiken zu Enteignung, Marginalisierung und zum Tod bestimmter Bevölkerungsgruppen führen, welche Orte des Widerstands stehen den Gemeinschaften, die um ihre Existenz kämpfen, zur Verfügung?

Ich möchte eine einfache Frage stellen: Wenn einige der heutigen kapitalistischen Praktiken zu Enteignung, Marginalisierung und zum Tod bestimmter Bevölkerungsgruppen führen, welche Orte des Widerstands stehen den Gemeinschaften, die um ihre Existenz kämpfen, zur Verfügung? Die Antworten (sofern es welche gibt) sind, wie bei den meisten einfachen Fragen, komplex, anspruchsvoll, manchmal paradox, bisweilen beunruhigend, gewaltsam und vielleicht sogar unmöglich. Gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, sich andere Welten vorzustellen, ist ein größeres Scheitern der Vorstellungskraft, als sich mit der Tatsache abzufinden, dass das gegenwärtige System nicht perfekt sei, aber dennoch „funktioniere“ und „verbessert“ werden könne. Ich möchte zeigen, für wen dieses System funktioniert, wer und was verbessert wird und wer diese Verbesserungen mit welchen Konsequenzen durchführt.

Das Konzept des Nekrokapitalismus
Ich habe das Konzept des Nekrokapitalismus im Hinblick auf die Arbeiten von Giorgio Agamben und Achille Mbembe sowie auf Michel Foucaults Überlegungen zu Souveränität und Biomacht entwickelt. Unter der Annahme, dass in der politischen Ökonomie der Gegenwart unterschiedliche Formen des Kapitalismus bestehen, bezeichne ich den Nekrokapitalismus als jene besonderen kapitalistischen Praktiken organisatorischer Akkumulationsformen, die mit Enteignung, Tod, Folter, Selbstmord, Sklaverei und Zerstörung von Existenzen verknüpft sind, sowie mit der allgemeinen Organisation und Verwaltung von Gewalt. Akkumulation durch Enteignung wurde von David Harvey als jener „Neue Imperialismus“ beschrieben, der die gegenwärtige neoliberale politische Ökonomie bestimmt und eine eklatante Ähnlichkeit zu Marx’ Beschreibung der ursprünglichen, dem Industriekapitalismus vorangegangenen Akkumulation aufweist.

Der Staat hat sowohl bei der Entwicklung der ursprünglichen Akkumulation als auch bei ihrer Transformation in den Industriekapitalismus eine entscheidende Rolle gespielt. Seit der Zeit des britischen Empires, als die Ostindien-Kompanie Territorien eroberte, Ländereien plünderte, Bevölkerungen versklavte und koloniale Vorposten im Dienste von König und Vaterland errichtete, bis zur Entstehung moderner souveräner Nationalstaaten und ihrer organisatorischen Akkumulatoren, den transnationalen Korporationen, war militärische Stärke immer ein Ermöglichungsgrund des Akkumulationsprozesses. Im postkolonialen Zeitalter fährt der Nationalstaat als einzig legitimer Vertreter von Gewalt fort, eine zentrale Rolle im Akkumulationsprozess zu spielen. Dennoch sind die Grenzen zwischen der Autorität des Staates und des Marktes nicht präzise bestimmt: Mächtige Marktakteure wie transnationale Korporationen verfügen meist über eine eigene „Polizei“ oder stützen sich auf private Milizen, um ihre Vermögenswerte in der Dritten Welt zu „schützen“. Die Vereinigten Staaten bedienten sich während beider Irakinvasionen privater Militärkräfte, und in der gegenwärtigen Irakbesetzung übersteigt die Anzahl der privaten militärischen Anbieter die Zahl der Militärkräfte aller alliierten Mächte mit Ausnahme der USA.

In der Herrschaft der neoliberalen Politik innerhalb der heutigen globalen politischen Ökonomie zeigen sich alte Muster des Imperialismus: Transnationale Korporationen üben ihre Macht über Länder der Dritten Welt durch das Anlocken ausländischer Investitionen und durch Drohungen aus, diese Investitionen zurückzuhalten oder zu verlagern. Als Gegenleistung für ausländische Investitionen und Arbeitsplätze gelingt es den Korporationen, den verarmten und vielfach korrupten Regierungen der Dritten Welt Steuerbegünstigungen abzuverlangen – ebenso wie Energie- und Wassersubventionen, minimale Umweltgesetze, mineralische und natürliche Ressourcen, willfährige Arbeitskraft sowie die Schaffung von Freihandelszonen, die im Wesentlichen Ausnahmezustände darstellen, in denen das Gesetz außer Kraft tritt, um das Geschäft mit der ökonomischen Ausbeutung voranzutreiben.

Die globale Ökonomie markiert demnach nicht den Tod des Nationalstaates, wie manche GlobalisierungstheoretikerInnen behaupten, sondern sie beruht vielmehr auf einem System von Nationalstaaten. Neoliberale Globalisierung lässt sich als Kennzeichen des letzten hegemonialen Triumphs der staatlichen Produktionsweise begreifen. Der Nationalstaat ist demnach ein grundlegender Baustein in der Globalisierung, im Funktionieren transnationaler Korporationen, im Aufbau eines globalen Finanzsystems, in der Instituierung politischer Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit der Arbeitskraft festlegen, und in der Schaffung multi-staatlicher Institutionen wie UN, IWF, Weltbank, NAFTA und WTO. Die Größenordnung der Regierungsmaßnahmen als Antwort auf die globale Finanzkrise in Europa, Nordamerika, Asien und Australien war derart beispiellos, dass neokonservative Kreise das Gespenst des Sozialismus und die Angst vor der Auferstehung einer staatlich gelenkten Ökonomie beschworen. Ob die Finanzkrise tatsächlich einen Reflex der Krise des Kapitalismus darstellt, die in eine lang andauernde Wiedereinmischung des Staates in die ökonomische Produktion mündet, oder ob sie dem üblichen Geschäft entspricht, bleibt abzuwarten, insbesondere jetzt, wo Deutschland, Frankreich und die USA aus der Rezession scheinbar herauskommen.

In bestimmter Hinsicht sind die imperialen Formationen der gegenwärtigen politischen Ökonomie „effizienter“, da die ehemaligen Kolonien nicht mehr regiert werden müssen. Der Imperialismus hat gelernt, die Dinge besser zu verwalten, indem die Eliten der ehemaligen Kolonien dazu benutzt werden, Regierungen zu führen und die strukturellen Mächte supranationaler Institutionen wie Welthandelsorganisation, Weltbank, internationaler Währungsfonds und Märkte viel imperiale Arbeit erledigen. Ich möchte drei Verwaltungsformen beschreiben, die eine Akkumulation durch Enteignung ermöglichen: Verwaltung durch Ausbeutung, Ausschluss und Vertreibung.

Verwaltung durch Ausbeutung
Verwaltung durch Ausbeutung entspringt dem Fluch der Bodenschätze und ist für Millionen von Menschen der Dritten Welt, die unter dem Fluch von Öl oder Mineralien leben, ein allzu bekannter Begriff. In vielen Teilen der Welt ist die Ausbeutung von Öl und Mineralien beinahe immer von Gewalt, Umweltzerstörung, Enteignung und Tod begleitet. Transnationale Ölfirmen, Regierungen und private Sicherheitskräfte sind Schlüsselakteure in diesen Zonen der Gewalt, und die von dieser Gewalt am meisten betroffenen Gemeinschaften sind gezwungen, ihre Souveränität, Autonomie und Tradition aufzugeben im Austausch mit einer Modernität und ökonomischen Entwicklung, die sich ihnen permanent entziehen. Shell in Nigeria, Chevron in Ekuador, Rio Tinto in Papua, Barrick in Peru und Argentinien, Newmont Mining in Peru, Vedanta Resources in Indien und der zapatistische Aufstand in Chiapas, Mexiko, sind nur einige der besser bekannten Fälle des „Fluchs der Bodenschätze“. Die zapatistischen AnführerInnen antworteten auf das bedingte Gnadenangebot der mexikanischen Regierung in einem Brief mit folgender Frage: „Wer soll um Verzeihung bitten und wer kann sie gewähren?“

Warum sollen wir begnadigt werden? Wofür werden wir begnadigt? Weil wir an Hunger sterben? Weil wir unser Elend nicht verschweigen? Weil wir unsere historische Rolle der Verachteten und Ausgestoßenen nicht unterwürfig akzeptieren? Weil wir dem Rest des Landes und der ganzen Welt bewiesen haben, dass die menschliche Würde selbst unter den Ärmsten der Welt noch am Leben ist? Internationale Finanzwirtschaft und Infrastruktur sind Grundbedingungen für die „Entwicklung“ „unterentwickelter“ Regionen, in denen die Regierungen „effiziente Kontrolle und Sicherheit“ demonstrieren müssen, was wiederum bedeutet, dass bestimmte Gemeinschaften „eliminiert“ werden. Das ist Nekrokapitalismus.

Verwaltung durch Ausschluss
Verwaltung durch Ausschluss entspringt dem Fluch der Demokratie und ist eine weitere häufig gebrauchte Praxis zur Ausübung der politischen Ökonomie. Während der Verhandlungen im Vorfeld der Kyoto-Protokolle war eine Verfahrensgruppe mit der Aufgabe betraut, eine globale Regenwaldpolitik zur Verwaltung und Aufforstung der Wälder zu entwerfen, um die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren. In Erwägung der Effekte der Tumulte rund um das Welthandels-Treffen 1999 in Seattle und ähnlicher Randale bei den Weltwirtschaftsgipfeln in Davos, Genua und Melbourne waren die Organisatoren darauf bedacht, inklusiv zu erscheinen und luden neben Korporationen, politischen EntscheidungsträgerInnen und WissenschafterInnen auch Umwelt-Gruppen, Gewerkschaften und Gemeinschaftsorganisationen ein. Doch für die indigenen Gruppen, die in den betroffenen Regionen leben, sind Regenwälder nicht einfach CO2-Fallen, sondern Existenzgrundlage, Nahrung, Medizin, Behausung, Kultur, Gesellschaft, Gemeinwesen und Ökonomie. Globaler Handel und globale Umweltpolitik werden meist ohne Rücksicht auf die aus dieser Politik resultierenden Gewalt und Enteignung der indigenen Gemeinschaften gemacht. Wenn keine Wälder mehr übrig sind, wird es sinnlos, über Waldrechte zu debattieren. Die Enteignung der lokalen Gemeinschaften zeigt gleichermaßen das Scheitern von Markt und Staat, da die „BürgerInnen“ demokratischer Staaten kein Recht haben, über ihre Zukunft zu bestimmen. Das ist Nekrokapitalismus.

Verwaltung durch Vertreibung
Verwaltung durch Vertreibung entspringt dem Fluch der Entwicklung, die eine gewaltsame Vertreibung der indigenen Gruppen mit sich bringt, um Platz für Infrastruktur- und Energieversorgungsprojekte zu schaffen. Ökonomische „Reformen“ und Strukturanpassungsprogramme, die von supranationalen Institutionen wie WTO, Weltbank und internationalem Währungsfonds diktiert werden, enden häufig in der Enteignung der lokalen Gemeinschaften durch Vertreibung. So werden etwa Landwirtschafts-„Reformen“ und Handelsliberalisierungen (Landwirtschaft ist in der Dritten Welt „liberalisiert“ und in der Ersten Welt geschützt) direkt mit der Zunahme von Selbstmorden unter indischen Bauern und Bäuerinnen um 260 Prozent in Zusammenhang gebracht. Ein junger Bauer, dessen Vater sich angesichts angewachsener Schulden umgebracht hatte, antwortete den Psychologen, die ihn besuchten: „Ihr seid gekommen, habt uns viele Fragen gestellt und viele Antworten gegeben. Trinkt nicht, habt ihr gesagt. Schlagt eure Frauen nicht. Macht Yoga gegen Stress. Aber ihr habt niemals diese eine Frage gestellt: Warum hungern die Bauern in diesem Land, obwohl sie die Nahrungsmittel der Nation zur Verfügung stellen?“

Joseph Stiglitz, ehemals Vizepräsident der Weltbank, einst der blauäugige Junge des neoliberalen Establishments und jetzt ein Verräter ihrer Anliegen, hat darauf hingewiesen, dass die ökonomischen Entwicklungspolitiken der Bank dazu geführt haben, die Gürtel der Armen enger zu schnallen und die der Reichen zu lockern. Das ist Nekrokapitalismus.

Anmerkung
Dieser Text erschien zuerst in Reartikulacija no 9. 2009 und ist Teil 3 einer Kulturrisse-Kooperation mit der in Ljubljana erscheinenden Zeitschrift Reartikulacija www.reartikulacija.org.

Subhabrata Bobby Banerjee ist Professor für Management und Vizedekan für Forschung am Business-College der Universitätvon West Sydney, Australien.

Übersetzung: Tom Waibel

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