Die Bedeutung der Regionen überdenken

Die Globalisierung hat eine beträchtliche Veränderung der Bedeutung geokultureller Regionen in der Welt vorangetrieben. Abgesehen von der dadurch möglicherweise hervorgerufenen Aufgeregtheit oder Besorgnis bietet dies zweifellos eine Gelegenheit, die Bedeutung der Regionen ebenso zu überdenken wie die Rolle, die humanistische Erkenntnis in deren Konstruktion spielt.

Die Globalisierung hat eine beträchtliche Veränderung der Bedeutung geokultureller Regionen in der Welt vorangetrieben. Abgesehen von der dadurch möglicherweise hervorgerufenen Aufgeregtheit oder Besorgnis bietet dies zweifellos eine Gelegenheit, die Bedeutung der Regionen ebenso zu überdenken wie die Rolle, die humanistische Erkenntnis in deren Konstruktion spielt.

Die beispiellose Welle globaler Deterritorialisierung, eingeleitet durch koloniale Zusammenstöße seit dem 15. Jahrhundert, begründete das moderne Konzept der Regionen auf Basis der Katastrophe. Die Aufteilung dieses neu gebildeten einheitlichen Erdballs in geokulturelle Makroregionen oder „Zivilisationen“, die vormoderne Imperien spiegelten, sollte als eine Antwort (in Form von Reterritorialisierung) auf die Katastrophe kolonialer Deterritorialisierung betrachtet werden. Es erübrigt sich, zu sagen, dass diese räumlichen Regionen während der gesamten Periode der kolonialen Moderne in einer im Wesentlichen hierarchischen Manier als eine zeitliche Organisation begriffen wurden, in der eine Region allen anderen „voraus“ war. Die gegenwärtige Bewegung von Nationalstaaten zu Zivilisationen einerseits sowie von geokulturellen Makroregionen zu postmodernen netzwerkartigen Organisationsformen andererseits lenkt erneut die Aufmerksamkeit darauf, wie globale Regionen und die sie begleitenden raumzeitlichen Hierarchien reorganisiert werden.

Es ist entscheidend, festzustellen, dass es sich bei den Hierarchien von zentralem Belang, in sehr groben Begriffen gesprochen, um zwei verschiedene Ordnungen handelt: das Soziale und das Kognitive. Beide haben ihre entsprechenden Besonderheiten, doch sind wir immer noch weit davon entfernt zu verstehen, in welcher Weise das Verhältnis zwischen diesen beiden Ordnungen tatsächlich bestimmt, wie wir sie unabhängig voneinander begreifen. Soweit es insbesondere um die kulturelle Konzeption der Regionen, vorwiegend der Nation sowie der Zivilisation, geht, sind wir fortwährend in einem Oszillieren zwischen dem Kognitiven und dem Sozialen gefangen. In anderen Worten: Die geokulturellen Regionen bilden eine Art – auf unentscheidbare Weise soziales und kognitives – „Habitat“, das mit der „empirisch-transzendentalen Dublette“ (Foucault) korrespondiert, die der moderne Mensch ist. Gerade weil geokulturelle Regionen nicht nur die Trennung zwischen dem Sozialen und dem Kognitiven überbrücken, spielt insbesondere Übersetzung eine wichtige institutionelle Rolle.

Die von der „Übersetzung“ – als Modus einer sozialen Praxis, wie Naoki Sakai in seinem Buch Translation and Subjectivity vorschlägt, und nicht als Modus einer „epistemologischen Wiedergabe“ – angebotene Möglichkeit bietet gleichzeitig aber auch die Chance, in Begriffen dynamischer, generativer Verhältnisse zu denken, anstatt in normativen Identitätsblöcken. Das heißt, dass das Verhältnis in einem zeitlichen Sinn vorrangig wird: Die Identitäten (zumindest soweit wir normalerweise über sie sprechen) bilden sich erst nach dem relationalen Zusammentreffen heraus. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es würde wenig Sinn machen, den Westen als eine besondere Identität oder als ein Amalgam bestimmender Kennzeichen zu besprechen bzw. zu kritisieren, da seine Herausbildung selbst (als Übersetzungsmodus, aber sicherlich nicht als der einzig mögliche!) sowohl festlegt, was wir wissen, als auch wer es weiß. Die Varianten der Kritik, die von einer Identität des Westens ausgehen und darüber das „westliche Verhältnis“ ignorieren, lassen sich leicht von der intrinsisch-hierarchischen Struktur des „Westens und seiner Anderen“ vereinnahmen.

Die Übersetzung in ihrer epistemologischen Version ist also nicht nur ein Mittel zur Absonderung des wesentlich Hybriden, sondern auch ein Mittel, um zu gewährleisten, dass diese Absonderung nicht von beiden Seiten der Trennung her verstanden werden kann, es sei denn auf differenzielle Weise, strukturell entworfen, um Ressentiment hervorzubringen. Ressentiment ist nicht so sehr ein psychologischer Zustand, als vielmehr eine Ökonomie des Ertrags (bzw. der Erträge), die die Herausbildung der subjektiven Identität über die Struktur projektiver Erträge betrifft. Innerhalb dieser Ökonomie begründet die Übersetzung (in ihrer epistemologischen Version) eine Form der „epistemologischen Wiedergabe“.

Indem die AnwenderInnen in geschlossene Räume von essentiell biopolitischer Art gelockt werden, bildet diese Wiedergabe die Basis einer Ordnung, die das Soziale in grundlegender Weise an das Kognitive koppelt, da die Möglichkeit einer Kommunikation, die die Kreisläufe dieser Absonderung nicht durchläuft, unterbunden wird: erstens, weil Übersetzung wohl einen integralen Bestandteil der Nationalsprache jeder Nation bildet, aber dennoch immerfort als zweitrangiger bzw. außergewöhnlicher Sprachgebrauch dargestellt wird; zweitens, weil die Notwendigkeit der „eigentlichen Übersetzung“ zwischen Sprachen als Anzeichen dafür gilt, dass die innerhalb einer einzelnen Sprache existierende Heterogenität einer völlig anderen Ordnung angehört; drittens, weil die Pluralität von Nationalsprachen den Umstand verschleiert, dass diese einer kollektiven Ordnung zugehören; viertens, weil die Sprache selbst, in der modernen Schule, unmittelbar zum „ideologischen Staatsapparat (ISA)“ im Sinne Althussers wird; fünftens, weil Sprache als ISA auf der Grundlage von Ressentiment geformte Subjekte hervorbringt (da beinahe jede/r in der Schule die Erfahrung gemacht haben wird, für falsche Grammatik, Anwendung oder Aussprache korrigiert zu werden); sechstens, weil es keinen gemeinsamen Maßstab für verschiedene Viktimisierungserfahrungen gibt und die Übersetzung als epistemologische Wiedergabe die faktische Unmöglichkeit voraussetzt, anders zu werden, als man angeblich ist. In diesem Sinn waltet Übersetzung also über jene soziale und kognitive Institution regionaler Rationalitäten, die als „Kulturen“ bekannt sind.

Wir brauchen eine neue Art von soziokognitiver Bewegung oder Übersetzungspraxis, die diese Ratio bzw. dieses Verhältnis zur Gänze adressiert und eine alternative Rationalität produziert, die es erlaubt, dass neue soziale und kognitive Verhältnisse sich in Formen ereignen, die die Bedeutung der „Regionen“ völlig neu definieren.

Die Übersetzung in Form der von Sakai kritisierten „epistemologischen Wiedergabe“ ist ein spezifisch modernes Regime geokultureller Differenz, das dem jüngst von zahlreichen TheoretikerInnen moderner Demokratie (Brossat, Derrida, Esposito) identifizierten immunologischen Modell der Gemeinschaft annähernd folgt. Dieses immunologische Übersetzungsregime ruft uns das, was Bruno Latour „bakterielle Kultur“ nennt, in Erinnerung: ein Name für jenes Regime der Moderne, das hybride Objekte zwar verursacht, sie aber dennoch hinter streng differenzierten Repräsentationssystemen verbirgt. „Übersetzung“ war eine der Hauptformen zur Maskierung einer solch essenziellen Hybridität. Thomas Lamarre bringt ein ausschlaggebendes geopolitisches Element ein, das in Latours Verständnis der Moderne fehlt, indem er die Entwicklung der „bakteriellen Kultur“ direkt im Kolonialismus situiert. Dieses Vorgehen macht deutlich, dass „Kultur“ nicht nur eine Beziehung zwischen Innen und Außen ist, sondern auch eine implizite Verbindung zwischen zwei völlig verschiedenen Formen der Arbeitsteilung beschreibt (die Marx’sche Trennung zwischen manueller und intellektueller Arbeit einerseits und die Foucault’sche Trennung zwischen verschiedenen Disziplinen andererseits). Im kolonialen Regime wurden beide Formen der Arbeitsteilung jeweils unterschiedlich mit einer Biopolitik der anthropologischen Differenz verknüpft.

Wir sind nun daran interessiert, die bakterielle Logik der kolonialen Moderne insbesondere im Hinblick darauf zu untersuchen, wie „der Westen“ die verallgemeinerte Form einer paradigmatischen immunologischen Region annahm, die angeblich ein „Gegengift“ für die Probleme aller anderen Regionen bieten sollte. Dergestalt wollen wir den Unterschied zur neuen Netzwerklogik betonen – also zur Logik des Virus bzw. zur viralen Logik. Erstens wird der Begriff „Virus“ innerhalb eines besonderen Feldes oder einer bestimmten Disziplin wirksam, und zwar zur Bezeichnung und Klassifizierung einer Reihe von unterschiedlichen Mikroorganismen bzw. im Fall der Informatik einer Anzahl von selbst replizierenden Programmen. Zweitens wirkt „Virus“ als ein viel generischeres Konzept, das die von Forschungsdisziplinen auferlegten Zwänge zwar umfasst, sich aber auch abseits davon ausbreitet. Es ist genau dieser generische Wert, den der Begriff Virus befördert, und nicht seine spezifische Bedeutung als feldbezügliches besonderes Wort, der seine kulturelle Bedeutung und diskursive Funktionsweise ausmacht. Zweifellos beinhaltet diese Form des Generischen, ebenso wie das Virus, ein fruchtbares Potenzial zur Neuerfindung der „Regionen“.

In dem Übergang von bakteriellen Kulturen und Zivilisationen zu viralen Netzwerkgesellschaften, den wir heute durchleben, scheint es wahrscheinlich, dass der Übersetzung weiterhin eine wichtige Rolle zukommen wird. Im bakteriellen Regime war Übersetzung ein Mittel zur Keimung von Kulturen. Sich in dieser Gussform haltend, betonen die Translationswissenschaften insbesondere Fragen eines transplantierten Einflusses. Im viralen Regime wird Übersetzung zunehmend als Mittel zur Mutation betrachtet. In diesem Modus betonen die Übersetzungswissenschaften – die gerade erst im Entstehen begriffen sind – die genetische Erfindung. Die Frage, ob wir der bakteriellen Logik kultureller oder zivilisatorischer Regionen gegenüber der viralen Logik postmoderner Netzwerke nostalgisch den Vorzug geben, scheint zwecklos. Die biopolitische Lösung findet sich vielmehr in der Anerkennung der jedem Modell innewohnenden Möglichkeiten sowie in der Trennung dieser beiden Modelle – besonders weil sie wahrscheinlich simultan koexistieren und einander nicht in streng zeitlicher Abfolge ablösen.

Anstelle eines vollständigen Plans dafür, welchen Beitrag eine neuerliche Theoretisierung der Übersetzung zur Neuerfindung von „Regionen“ abseits der müden Kategorien von kulturellem „Zusammenprall“ und/oder „Dialog“ zu leisten vermag, können wir diese vorläufige Schlussfolgerung anbieten: Übersetzung ist, wie jeder andere linguistische Austausch auch, sowohl eine Praxis viraler Sozialität wie ein Prozess bakterieller Kultur (bzw. ein Prozess der Bildung [im Orig. Deutsch] entsprechend Antoine Bermans Erklärung der deutschen Romantik). An sich ist die Vorstellung ganz und gar möglich, dass die generative Macht der Übersetzung, ihre generische Macht der Mutation, selbst zur Grundlage einer neuartigen Kultur wird. In diesem Sinn bietet sich uns die Übersetzung selbst als Figur des heutigen Gemeinschaftlichen dar. Obwohl wir in keinerlei Weise vorhersagen können, welcherlei Region oder Regionen mit diesem Übersetzungsmodell korrespondieren werden, können wir uns dennoch sicher sein, dass ihre Herausbildung zumindest nicht in Übereinstimmung mit dem destruktiven immunologischen Modell erfolgen wird, das die Region als „Gegengift“ für die biopolitischen Probleme der Katastrophe betrachtet.

Übersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel

Jon Solomon ist Assistenzprofessor am Graduierteninstitut für Zukunftsstudien und am französischen Programm der Tamkang Universität, Taiwan.

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