Die Faszination des Anderen

Die Entstehung der Sozialreportage ist untrennbar mit dem rasanten Wachstum moderner Großstädte und der Herausbildung industrialisierter urbaner Zentren im 19. Jahrhundert verknüpft. Im Selbstverständnis der bürgerlichen Öffentlichkeit symbolisierte die Großstadt Zivilisation und Fortschritt schlechthin und provozierte zugleich neue literarische und journalistische Reflexionen über die spezifischen Erfahrungen urbaner Modernität.

Die Entstehung der Sozialreportage ist untrennbar mit dem rasanten Wachstum moderner Großstädte und der Herausbildung industrialisierter urbaner Zentren im 19. Jahrhundert verknüpft. Im Selbstverständnis der bürgerlichen Öffentlichkeit symbolisierte die Großstadt Zivilisation und Fortschritt schlechthin und provozierte zugleich neue literarische und journalistische Reflexionen über die spezifischen Erfahrungen urbaner Modernität: Hektik, Nervosität, Anonymität und Unübersichtlichkeit.

Die Selbstinszenierung des urbanen Bürgertums und die Imagination der Großstadt als Ort der Zivilisation verwies jedoch im Umkehrschluss immer auch auf das Andere, auf die „Unterseiten“ und Gegenbilder der Moderne (Kopp/Müller-Richter 2004): auf die proletarischen Vorstädte und Elendszonen der metropolitanen Peripherie, die im Zuge der städtebaulichen Transformationen, des Bevölkerungswachstums und der Migrationsbewegungen auch in der städtischen Topografie abgrenzbar wurden, ebenso wie auf das außereuropäische Andere. Während in ethnografischen Museen und „Völkerschauen“ Primitivität inszeniert wurde (Schwarz 2001), stellten sich auch die ArbeiterInnen- und Armenviertel der Großstädte als „dunkler Kontinent“ dar, assoziiert mit Schmutz, Dunkelheit, Laster, Unmoral und Devianz, aber auch mit Abenteuer und Exotik.

Nicht zuletzt, weil stadträumliche und imaginäre Differenz einander entsprachen, konnten die Vorstädte und Elendsviertel als terra incognita entworfen werden, die Ängste des Bürgertums vor proletarischer Zusammenrottung, Infektion und sozialem Abstieg evozierte, als Projektionsfläche kultureller und erotischer Fantasien herhalten musste sowie Programme der Zivilisierungsmission und ordnungspolitische Maßnahmen herausforderte.

Urban Explorers

An diesen diskursiven Schnittflächen bildet sich die Sozialreportage als Darstellungsform großstädtischer Armut und proletarischen Lebens heraus. Während die frühe Stadtforschung in enger Anbindung an statistische Gesellschaften und philanthropische Vereinigungen die Vorstadt in erster Linie als sicherheits- und gesundheitspolitisches Problem thematisierte und die Kartierung der Elendszonen als Grundlage zur Optimierung sozialpolitischer Eingriffe betrieb, betrachteten die GroßstadtreporterInnen die Stadt als Entdeckungsreisende – als urban explorers. Sie orientierten ihre Expeditionen in die dunkelsten Elendsviertel am kolonialen Reisebericht und versuchten, die Faszination eines bürgerlichen Publikums mit Absonderlichkeiten und Sensationen zu bedienen. So wie die Reiseliteratur dem Bürgertum die Schaurigkeiten, Exotik und Mysterien ferner Länder vorführte, bedienten die Erkundungen die Klischees kolonialer Abenteuer und wissenschaftlicher Expeditionen.

Verstärkt wurde dies noch durch die entstehende Boulevard- und illustrierte Massenpresse, die die Erfahrung großstädtischen Lebens als Serie sensationeller Nachrichten und unglaublicher Geschichten übersetzte. In diesem Kontext entstand ein neues Genre, das von den faszinierenden und erschütternden Entdeckungen im „Vorstadt-Dschungel“ berichtete. Alfred Polgar beschreibt schon 1904, wie „der Mann der bürgerlichen Sphäre … diese Schilderungen abenteuerlich tiefen und bösen Elends wie irgendeine ethnographische Studie [liest], die von den unglaublichen Lebensgewohnheiten und Lebensbedingungen sehr ferner Völkerschaften erzählt“ (zit. n. Haas 2006: 17).

Spektakel des Elends

Zu den aufsehenerregendsten Reportagen solcherart zählen sicher Emil Klägers Exkursionen ins Wiener Kanalsystem, zu den Schlafstätten der Obdachlosen, in Männerheime und Wärmestuben, die nicht zuletzt deshalb zum großen Publikumserfolg wurden, weil Kläger vom Amateurfotografen Hermann Drawe begleitet wurde, dessen Bilder 1905-1908 in der Wiener Urania als sozialdokumentarischer Lichtbildvortrag Durch die Quartiere des Elends und des Verbrechens gezeigt wurden.

Kläger und Drawe inszenierten die großstädtische Armut Wiens als Spektakel des Elends. Ihnen ging es nicht um das Alltägliche der Armut, sondern um die „unglaublichen“, „schaurigen“ Geschichten einer verborgenen, exotischen, bedrohlichen „Unterwelt“. Andersartige Welten fand die Expeditionsliteratur nun nicht mehr allein in geografischer Ferne, sondern auch in den Tiefen, den sozialen und räumlichen „Abgründen“ der Gesellschaft, die von Typen bevölkert waren, die kriminalanthropologischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts entsprungen zu sein schienen. Klägers Reisebericht bediente damit genau jene klischeegeladene Bilder- und Vorstellungswelt einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die Elend mit Kriminalität verknüpfte, nahm zugleich aber auch Bezug auf die sozialen (Abstiegs-)Ängste des Bürgertums. Schließlich wurde die intendierte Schockwirkung der Geschichten und Bilder durch die räumliche Nähe zwischen dem verborgenen, unterirdischen Wien und dem „normalen“ Wien der Oberfläche noch verstärkt: Eine bedrohliche Parallelwelt nagte am Fundament der bürgerlichen Gesellschaft (Lindner 2004: 35).

Als authentische Geschichten konnten Klägers Expeditionsberichte nun vor allem deshalb gelten, weil sie auf der Erfahrung „teilnehmender Beobachtung“ beruhten. Kläger hatte sich selbst als Obdachloser verkleidet und – zeitlich begrenzt – am Leben der Unterschichten teilgenommen. Der Wechsel ins „Elendskostüm“ beglaubigte damit nicht nur den Entdeckergeist des Journalisten, sondern versprach auch unvermittelte Einblicke ins Leben der Deklassierten, weil sie auf eigener Erfahrung gründeten.

Im dunkelsten Wien

Derselben Methoden der „teilnehmenden Beobachtung“ bediente sich auch der gelernte Gerichtssaalreporter, sozialdemokratische Journalist der Arbeiter-Zeitung und spätere Vizebürgermeister Wiens Max Winter, der zu Recht als einer der Pioniere der Sozial- und Rollenreportage gilt. Auch Winter schlüpfte ins Elendskostüm, um unverfälschte Einblicke in die erschütternden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Wiener ArbeiterInnen und Unterschichten zu geben. Winter wohnte tagelang mit Obdachlosen unter Brücken, durchwanderte die Welt der „Kanalstrotter“ des Wiener Abwassersystems, schlief in Nachtasylen, quartierte sich in den Zinskasernen der Vorstädte ein und ließ sich sogar ins Gefängnis werfen, weil er nur darüber schreiben wollte, was er „wirklich gesehen und miterlebt“ hatte.

Anders als Kläger wollte Winter seine Reportagen jedoch als Beitrag zum sozialreformerischen Projekt der Sozialdemokratie verstanden wissen. In packendem Stil verfasst waren Winters Reportagen über die Unterprivilegierten, Entrechteten und AußenseiterInnen der Gesellschaft lebendige und detailreiche Erfahrungsberichte über das Leben der VerliererInnen kapitalistischer Modernisierung. Statt nüchterner Analysen und statistischer Tabellen sollten Winters Reportagen soziale Missstände nicht nur aufdecken, sondern konkretisieren, um so Betroffenheit zu erzeugen und gesellschaftliche Unterstützung für sozialpolitische Maßnahmen zu mobilisieren.

Dennoch orientierte sich auch Winter – weniger in seinen Industrie- und Arbeitsreportagen, deutlich aber in seinen „Expeditionen ins dunkelste Wien“ – sprachlich an den geläufigen Figuren abenteuerlicher Entdeckungsreisen. Während Kläger allerdings die Ängste und Fantasien des Bürgertums aufgriff, war Winters Unterwelt mit Typen bevölkert, die „direkt der Tradition der Wiener Volksschauspiele“ entstiegen: „jener also, die ihrer misslichen Lage zum Trotz dennoch Lebensklugheit, Witz und Widerständigkeit bewahren“. Winter inszenierte seine Reportagen als „Entdeckungsreise in eine von der Moderne verdrängte und bald zum Verschwinden gebrachte Kultur und Tradition“ – ein „romantisch-ethnographischer Zugang“ auf der Suche nach den letzten „echten Wienern“ (Schwarz/Szeless/Wögenstein 2007: 10). Gezielt streute er Begrifflichkeiten der Gaunersprache in seine Texte ein, was seinen Reiseberichten nicht nur höhere Authentizität verleihen sollte, sondern auch „die Assoziation von Elendsmilieu und Verbrechen“ bediente, „die den Texten eine moralische Ambivalenz zwischen sozialem Appell und Exotismus“ verlieh (Mattl 2007: 113).

Ambivalenzen

In der sozialdemokratischen Propagandatätigkeit spielte die Protokollierung großstädtischer Armut und der Arbeits- und Lebensbedingungen des Vorstadtproletariats sicher keine unwesentliche Rolle. Schon Victor Adler, Gründervater der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Förderer Winters, hatte sich 1888 verkleidet in die Wienerberger Ziegelwerke eingeschlichen, um die katastrophalen Arbeitsbedingungen publik zu machen.

Dennoch blieben die in gesellschaftskritischer Absicht verfassten Reportagen in mehrfacher Hinsicht ambivalent. Die Hierarchien zwischen den ReporterInnen als entdeckenden und aufdeckenden Subjekten und den Entdeckten als Objekten, deren Lebensbedingungen erkundet wurden, um sie für sozialreformerische Projekte zu mobilisieren und in die politische Erziehungs- und Bildungsarbeit einzuspannen, wurden schon durch die Notwendigkeit der Verkleidung angezeigt. Das dressing down verweist auf den enormen Spalt, der die Lebenswelten der Unterschichten von jener des Bürgertums trennte, in der sich auch die sozialdemokratischen JournalistInnen bewegten. Die Hoffnung, sich durch Camouflage in die Erfahrungswelten der Subalternen „einfühlen“ zu können, scheitert an diesem Spalt. Ebenso evozierten die Texte in der Rezeption der Öffentlichkeit, die die massenmediale Spektakularisierung gewohnt war, Vorstellungen einer faszinierenden, schockierenden oder romantisierten Gegen-Welt. Das Subproletariat der Großstadt wurde so schnell zur Projektionsfläche, und die Reportage verlor ihre klassenpolitische Spitze. Möglicherweise besteht die Ambivalenz der Sozialreportage letztlich überhaupt darin, dass sie diesem Spannungsfeld zwischen exotisierendem Spektakel und sozialreformerischen Impulsen nie gänzlich entkommen kann.

Dass die Arbeiten Winters und anderer trotz allem aber als sozialkritische Quellen neu gelesen und bearbeitet werden könnten, zeigt beispielsweise die Auseinandersetzung der History Workshop-Bewegung der 1960er mit den Reportagen des frühen Pioniers der Stadtforschung Henry Mayhew, dessen Berichte als Vorformen der oral history und „Geschichte von unten“ aufgegriffen wurden, selbst wenn Mayhews Ethnografie der Londoner Armutsbevölkerung ebenso oft auf die Rede der „Wilden der Zivilisation“ zurückfiel.

Stefan Probst lebt und arbeitet in Wien und ist aktiv bei der Gruppe Perspektiven.

 

Literatur

Haas, Hannes (2006): „Der k.u.k.-Muckracker Max Winter oder Über den Gestank der Tatsachen“. In: Winter, Max: Expeditionen ins dunkelste Wien. Meisterwerke der Sozialreportage. Hg. v. Hannes Haas. Wien, S. 14-26.

Kopp, Kristin/ Müller-Richter, Klaus (2004): „Die ,Großstadt‘ und das ,Primitive‘. Text, Politik und Repräsentation“. In: dies. (Hg.): Die „Großstadt“ und das „Primitive“. Text – Politik – Repräsentation. Stuttgart, Weimar, S. 5-28.

Lindner, Rolf (2004): Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt/New York.

Mattl, Siegfried (2007): „Das wirkliche Leben. Elend als Simulationskraft der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zu den Werken Max Winters und Emil Klägers“. In: Schwarz, Werner Michael/Szeless, Margarethe/Wögenstein, Lisa (Hg.): Ganz Unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, S. 111-117.

Schwarz, Werner Michael (2001): Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung „exotischer“ Menschen, Wien 1870-1910. Wien.

Schwarz, Werner Michael/Szeless, Margarethe/Wögenstein, Lisa (2007): „Bilder des Elends in der Großstadt (1830-1939)“. In: Dies. (Hg.): Ganz Unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, S. 9-17.

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