theatrale räume. raumproduktion und autorisierung.

theater ist das gemeinsame prozessieren von sich zur gleichen zeit im gleichen raum befindenden, das prozessieren aller anwesenden einer gemeinsamen situation mit unterschiedlichen voraussetzungen. theater ist das teilen einer zeitdauer in einem raum, eine dauer, die in glücksfällen zu einer geteilten zeit wird. wenn man theater nicht als vorzeigen eines gewussten, sondern viel mehr als ein erzeugen einer situation versteht.

vorab: ich möchte den versuch unternehmen, über den begriff der raumproduktion zu einer definition von theater zu gelangen, verstanden als tool einer ästhetischen und sozialen aushandlungspraxis an orten, um schließlich das verhältnis von tendenziell willkürlichen maßnahmen zu selbstautorisierungprozessen von künstlerInnen und rezipientInnen zu befragen.

1. raumproduktion und kunst

„raum wird hergestellt durch spezifische soziale prozesse. im gegensatz zu anderen waren ist er aber gleichzeitig materielles objekt und medium, in dem andere waren und gesellschaftliche verhältnisse geschaffen werden. so reproduziert und modifiziert raum permanent die gesellschaftlichen voraussetzungen seiner eigenen produktion.“ (henri lefèbvre, the production of space)

„während syntheseleistung die wahrnehmungs-, vorstellungs- oder erinnerungsprozesse erfasst, durch die güter und menschen zu räumen zusammengefasst werden, benennt spacing das platzieren von sozialen gütern und menschen in relation zu anderen gütern und menschen (...).“ (martina löw, raumsoziologie)

lefèbvre unterscheidet zwischen räumlicher praxis, der repräsentation des raumes und räumen der repräsentation. martina löw beschreibt in ihrem 2001 erschienenen buch „raumsoziologie“ die produktion des raums als parallelen prozess von spacing und synthese, sowie die institutionalisierung von raumpraktiken und deren reproduktion, sowie die mechanismen von übereinkünften bei der raumkonstitution. arbeitet man nicht unreflektiert an institutionell vorgegebenen orten, akademien, theatern, und museen etc. muss die analyse der voraussetzungen von ort und raumproduktion die grundlage sein von künstlerischen interventionen und dem überdenken ästhetischer bzw. künstlerischer strategien und praktiken. die ästhetische produktion arbeitet mit körpern, texten, objekten, situationen und zeitorganisationen in räumen. sie schließt die produzierenden und die körperlich anwesend koproduzierenden mit ein. im aufeinandertreffen von ästhetischen interventionen an orten mit benutzerinnen und zuschauerinnen wird raum produziert: soziale prozesse werden ausgetragen, analysierbar, im besten falle agierbar gemacht im aushandeln von rhythmen, raumvorstellungen und nutzungskonventionen.

was sind die voraussetzungen, kategorien, vergleichssysteme und die prozessualen übereinkünfte zwischen produzentinnen und koproduzentinnen, und was die differenzen ihrer bewertung oder besetzung im sozialen und ästhetischen feld? man antizipiert die qualitäten der raumwahrnehmung und des raumgebrauchs aus einem gesammelten kulturellen und individuellen wissen, bevor man sich in einen raum begibt. man speichert die ideologischen und habituellen eingaben und annahmen und prozessiert diese meist reproduktiv. treffen diese annahmen nicht zu, werden sie irritiert, entsteht ein schock in der wahrnehmung. eine ablehnung oder im besten falle eine überprüfung bestehender annahmen könnte einsetzen. ein eingreifendes denken, die erste voraussetzung zu selbstautorisierenden prozessen. das heißt es gibt ein gesellschaftlich fundiertes wissen und annahmen, mit denen räume antizipiert werden. innerhalb dieser gesellschaftlichen antizipationen kann raum künstlerisch, ästhetisch und kritisch gesetzt oder versetzt werden. die kollektiven antizipationen sind die grundlagen der raumwahrnehmung und raumkonstitution und informieren das aktive gestaltungsspektrum mit/im raum. wann greift raum in die bedingung seiner produktion ein?

2. theater

das argument für das theater ist die gleichzeitigkeit von produktion und rezeption in kontraktierten räumen und die ständige möglichkeit eines übergriffs, der die jeweilige situation zerstören oder verändern kann. theater ist das gemeinsame prozessieren von sich zur gleichen zeit im gleichen raum befindenden, das prozessieren aller anwesenden einer gemeinsamen situation mit unterschiedlichen voraussetzungen. theater ist das teilen einer zeitdauer in einem raum, eine dauer, die in glücksfällen zu einer geteilten zeit wird. wenn man theater nicht als vorzeigen eines gewussten, sondern viel mehr als ein erzeugen einer situation versteht. theater ist ein kollektiver prozess der autorisierung. theater ist ein handlungsraum, der handlungen gleich einem laboratorium befragbar macht und die möglichkeit der veränderbarkeit bietet. theater ist ein labor zum erlernen gesellschaftlicher praxis und ästhetischer strategien. theater ist vom frühen brecht aus zu denken, als pädagogium einer gesellschaftlichen praxis, als erzeugung einer situation mit den potentialen performativer praxis, als ort der überprüfung gesellschaftlicher realität, ihrer habituellen konventionen und mechanismen. in differenz zu brecht geht es nicht um die darstellung derselben, sondern um die sichtbarmachung vorhandener strukturen, somit einer theatralisierung des alltags, einer verfremdung des alltäglichen, indem man dem alltäglichen andere räume, bühnen, zeiträume, konzentrationsräume oder konflikträume der betrachtung gegenüberstellt.

3. produktion theatraler räume

theater benötigt eine grenze, eine bühne, einen rahmen, eine markierung der unterscheidung oder ähnliches, einen sichtbaren unsichtbaren zeitraum, der ein- und ausschlüsse produziert, und andere regulatorien zulässt, der durch beobachtungen der praktiken im öffentlichen raum alternative handlungen ermöglicht. ein theatraler aushandlungsort ist ein ort, der verschiebungen und unterbrechungen im öffentlichen fluss von funktionalitäten vornimmt, einen störfall produziert, sowie einen aufenthalts-, einen auseinandersetzungsort initiiert, genutzt von den unterschiedlichen akteuren des öffentlichen lebens. die produktion theatraler räume produziert räume, die als kodifizierte orte, als zeitlich und optisch begrenzte spielflä- chen regeln des gebrauchs zunächst ent-setzen durch dimension, funktion, kontext und zeit, um in der benutzung die kriterien neu bestimmen müssen. der theatrale raum markiert die grenze, das territorium, die bühne des aushandelns künstlerischer und sozialer prozesse. der körper, der sich auf der spielfläche bewegt, verändert seinen habitus, nimmt seinen körper bewusst wahr durch ruhende blicke auf ihm. daraus folgt eine ununterscheidbarkeit des künstlichen, des sozialen, zufälligen und artifiziellen. dies lässt unterschiedliche aushandlungsarten innerhalb dieses komplexen gefüges zu. die räumliche setzung markiert ein- und ausschluss. diese theatralen räume markieren eine spielfläche mit anderen regeln, die nicht bekannt sind, im aufenthalt herausgefunden werden müssen und sich verändern.

4. ein paradox: willkürliche maßnahmen und autorisierung des rezipienten

um bestimmte sehgewohnheiten und rezeptionsgewissheiten zu unterbrechen, bedarf es willkürlicher akte, die die produktion von bedeutung freigeben, im besten falle haltungen beim publikum erzeugen. eine haltung wird durch künstlerische strategien provoziert, herausgefordert – genauer noch mehrere haltungen, die sich mit dem theater, der lesart des theaters und der produktion des textes und der körper konfrontieren, die alle körper betreffen im setzen anderer räumlicher und zeitlicher herausforderungen, die in die konditionierten dimensionen und zugestandenen wirkungsstrategien eingreifen. und diese zur disposition stellen.

die meisten theatralen und künstlerischen einsätze setzen eine zustimmung voraus, etwas wird gezeigt, vorgezeigt, angeschaut, man stimmt zu. das wesentliche wird jedoch nicht im zeigen gezeigt, sondern im zwischenraum zwischen gezeigtem, produziertem und dem rezipienten provoziert. theater kann kommunikation und politische haltungen durch die verwendung und materialität seines mediums provozieren, nicht nur über das, was dargestellt und vorgezeigt wird. der akt des ergreifens und selbst entscheidens über handlungen und haltungen ist die möglichkeit des theaters, für akteur und rezipient, dem koproduzenten der theatralen situation. alle sind anwesend und verbringen eine gemeinsame zeit, die eine exzeptionelle ist, mit künstlichen mitteln strukturiert wird. dies macht möglich, alltag zu reflektieren, in der situation einer anderen logik und sensibilität von zeit und zeichen. eine rezeption und kommunikation, die die alltagserfahrungen attackieren und deren logik in frage stellen kann. nur ein willkürliches durchbrechen der alltagsgewohnten wahrnehmung und handlungsweisen kann einen vorgang der autorisierung des zuschauers ermöglichen. die herrschenden ästhetischen und politischen und kommunikativen strategien in frage stellen über einen theatralen entwurf, in der materialisierung eines anderen: einer anderen sprache, anderer körper in anderen situationen etc. das ist die subversion des theaters, vielleicht der grund, warum es in der polis als gefährlich galt, vom staat kontrolliert wurde und bei den calvinisten verboten war.

das theater hat die möglichkeit, ein labor zugleich gesellschaftlicher, als auch ästhe- tischer, als auch repräsentativer praktiken zu sein. das ist sein potential. die eine strategie kann mit der anderen gegengelesen werden, dies aber nur in offenen räumen, in denen jeder die situation teilt und akteur wird. akteur seiner selbst innerhalb eines auszuhandelnden situativen kontraktes und zuschauer der anderen gesellschaftlichen akteure. alle beobachten sich auf dieser gesellschaftlichen bühne gleichzeitig und agieren in der repräsentation ihrer zugehörigkeit.

der riss der geschichte und geschichten wird ein körperlicher. die erfahrung des fremden erfahrbar in unmittelbarer nähe, in unmittelbarer nähe der produzenten einer fremden ästhetik, die einen umzingeln, umkleiden. eine gemeinschaft von körpern und produzenten unterschiedlicher ordnung, zugleich träger ihrer geschichte und herkunft, als auch körper, die die distanz zu einem zu erfindenden code ergreifen. sie prozessieren und schaffen so einen zwischenraum in der nähe, der zum aufenthalt einlädt, ohne bilder des gezeigten. assoziationen konstruieren sich im bewegen, denken und atmen. die theatrale willkürliche situation schafft einen zeitraum und eine konzentration, die im alltagsleben nicht gegeben ist, und der einzelne nur individuell herstellen kann. wobei es sich aber hier um einen kollektiven akt der produktion handelt im teilen einer konzentration, im verfolgen des formulierens. der sichtbarkeit der überwindung einer unüberwindbaren distanz.

5. theater als archiv repräsentativer techniken

theater ist ein archiv historischer modelle kultureller, ökonomischer und gesellschaftlicher spiel- und repräsentationsformen. jede epoche schafft ihre eigenen modelle von funktionen der kunst, modelle von wissen und wissensproduktion, von sehen, von räumen in denen gesellschaftliche differenzen ausgetragen werden, modelle, räume und bühnen von kritik und sichtbarkeit. jede ästhetik ist auch politische ideologie.

6. konflikt als kritik

was sind die ideologischen implikationen heutiger ästhetischer kriterien und kritikformen? ich denke, dass kunst sichtbare eingriffe in die einverständnisproduktion heutiger rezeptionsweisen schaffen muss in form von konflikten, konflikte von inhalten, austragungsformen und ästhetischen differenzen. wie ist das politische paradox zu überwinden, dass willkürliche maßnahmen die möglichkeit schaffen, verschiebungen in regulierten abläufen, institutionellen übereinkünften und organisationen vorzunehmen? diese ästhetischen maßnahmen, als untergrund oder kontrastmittel, können vorhandene machtstrukturen und übereinkünfte sichtbar und lesbar machen und somit entscheidungen von subjekten, in körpern und im denken initiieren. ich würde das selbstautorisierungsprozesse nennen. die tendenziell willkürlichen akte produzieren ent-setzungen, politisieren den raum durch entscheidungen und deren überprüfbarkeit und können so eine kollektive „andere“ produktion initiieren, im herstellen anderer räume und aushandlungsformen.

claudia bosse lebt in wien. theaterarbeiten, installationen und diskursproduktionen. arbeitet seit 1996 mit theatercombinat.

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