Was es heißt, 10, 20 oder 50 Mal im Jahr den Job zu wechseln

Was es heißt, 10, 20 oder gar 50 Mal im Jahr den Job zu wechseln ... Kaum jemand hat sich mit der Praxis und Theorie der immateriellen Arbeit und des kognitiven Kapitalismus so intensiv beschäftigt wie der in Paris lebende Soziologe und Philosoph Maurizio Lazzarato.

Was es heißt, 10, 20 oder gar 50 Mal im Jahr den Job zu wechseln ... Kaum jemand hat sich mit der Praxis und Theorie der immateriellen Arbeit und des kognitiven Kapitalismus so intensiv beschäftigt wie der in Paris lebende Soziologe und Philosoph Maurizio Lazzarato. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Multitudes“ und veröffentlichte auch eine Vielzahl von Publikationen zum Raum und zur Politik sozialer Kämpfe, etwa zu den französischen Intermittents oder den italienischen Tute Bianche. Anlässlich seiner Vortragsreihe in Linz und Wien Anfang Mai nützten die Kulturrisse die Gelegenheit, um mit Maurizio Lazzarato über Prekarität und die Veränderung der Produktionspraxen im Kunst- und Kulturbereich zu sprechen.

Kulturrisse: Im Zuge der vielfältigen Kämpfe gegen die Prekarität gilt das besondere Interesse der Kunst- und Kulturschaffenden den französischen „Intermittents du spectacle“. Worin liegt deren Bedeutung?

Lazzarato: „Intermittence“ ist eine Arbeitslosenregelung der Regierung für jene, die in permanent unterbrochenen Arbeitsverhältnissen stehen, also für all jene, die einer sehr vielseitigen und unregelmäßigen Beschäftigung nachgehen. Insgesamt umfasst dieses Spektrum mittlerweile 400.000 Menschen, die in künstlerisch- kulturellen und in audio-visuellen Bereichen sowie im Medien-Sektor arbeiten. Kunst- und KulturarbeiterInnen machen in etwa ein Viertel davon aus. Die so genannten „Intermittents du spectacle“, also die im Bereich künstlerischer Aufführungen Beschäftigten, wechseln ihren Job 10, 20 oder gar 50 Mal im Jahr. Sie arbeiten zunächst etwa unter Vertrag bei einem Film, und dann wieder in einem Theater. Das dauert oft nur eine Woche und dann ist dieser Vertrag auch schon wieder beendet. Das schafft natürlich eine sehr flexible und höchst prekäre Arbeitssituation.

Kulturrisse: Angesichts der für diese Jobs geradezu konstitutiven Befristung von Arbeitsverhältnissen, welchen Stellenwer, welche Bedeutung haben da noch Begriffe wie „Arbeit“, „Arbeitslosigkeit“ und „Produktiv sein“?

Lazzarato: Im Betrieb der künstlerischen und kulturellen Aufführungen wird der Wert eines Kulturprodukts nicht ausschließlich durch die damit verbundene und durch den Vertrag festgelegte Dauer der Beschäftigung gemessen. Er setzt eine Vielzahl von Zeitfaktoren voraus. Dazu zählt die Dauer der erhaltenen Ausbildung, Zeiten, die in die Weiterentwicklung und Verbesserung von sozialen, intellektuellen und künstlerischen Lebensbedingungen investiert werden, Zeiten für die Organisation neuer Projekte, Zeiten für das Ausprobieren und Experimentieren, Zeiten für nötige Erholung und Regeneration. Alles in allem also eine Vielzahl von Zeitfaktoren, die oftmals gar nicht in die Zeitspanne der Beschäftigung fallen, aber mitunter ganz maßgeblich zum Wert der geschaffenen Kulturgüter beitragen.

Kulturrisse: Sind Kategorien wie „Beschäftigung“ bzw. Arbeitslosigkeit dafür geeignet, die Produktionspraxen im Kulturbereich zu definieren? Wie sollen die Zeiten gemessen werden, die sowohl zur Beschäftigung wie auch zur Arbeitslosigkeit, also zum Leben zu zählen sind?

Lazzarato: Im Vordergrund steht die Überlegung, dass die Beschäftigungsdauer nicht mit der eigentlichen Arbeitszeit ident ist. Diese geht weit über die Beschäftigungsdauer hinaus. Die zuvor genannten Zeitfaktoren lassen sich nicht in ein Schema pressen, sondern erweisen sich als vielschichtig. Was die Finanzierung dieser Zeiten anbelangt, darf diese nicht als eine Belastung für die Lohnsteuer zahlenden Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aufgefasst werden, sondern muss als eine „kollektive Investition“ gesehen werden. Vor dem Hintergrund, dass sich die Analyse des Phänomens auf eine genaue Beachtung der Zwischenzeiten und des Wesens der unsteten Beschäftigung konzentriert, versuchen wir, die Arbeitspraktiken in diesem Bereich besser zu verstehen. Ein wichtiges Ziel ist es, die Effizienz und Angemessenheit der unterschiedlichen Modelle der Arbeitslosenzuschüsse zu beurteilen. Dabei stehen wir vor dem Problem, dass diese Arbeit vielfach gar nicht sichtbar ist. Das hat mit der Beschaffenheit der Tätigkeit selbst zu tun. Die Unsichtbarkeit wird aber auch dadurch erzeugt, dass die Tätigkeiten teilweise oder zur Gänze unentgeltlich bzw. ehrenamtlich im Rahmen eines Vereines ausgeführt werden, wobei der Output sehr positive wirtschaftliche Auswirkungen hat. Diese sind sowohl durch die auf der Ebene der bezahlten Tätigkeiten entstandene Wertschöpfung spürbar als auch durch die lokalen wirtschaftlichen Auswirkungen. Wer also nach den Ursachen des Defizits sucht, muss bei den Umwälzungen der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse ansetzen, die gegenwärtig die alleinige Berechnung der Arbeitslosenbeiträge auf Grundlage der gearbeiteten Stunden als unzeitgemäß erscheinen lassen. Das Beitragssystem hat seine Schwächen im Hinblick auf die steigenden und vor allem veränderten Bedürfnisse und wurde auch nicht für die heutigen Arbeitsverhältnisse geschaffen.

Kulturrisse: Ist die Festschreibung von Berufen zielführend, um den Kompetenzen und Tätigkeiten von Menschen in permanent unterbrochenen Beschäftigungsverhältnissen Rechnung zu tragen? Oder anders gefragt: Inwieweit sind Vielseitigkeit und Wechselbereitschaft Randphänomene im Sinne eines Mangels an Professionalität, inwieweit sind sie Ausprägung einer tief greifenden Veränderung der Arbeitsverhältnisse und des Kunst- und Kulturbetriebs?

Lazzarato: Wir haben den beruflichen Weg von immer nur befristet angestellten Kunstschaffenden analysiert, indem wir eine Verbindung zwischen einerseits der Ausbildung und der Berufslaufbahn und andererseits dem Rechtsanspruch auf Arbeitslosenversicherung hergestellt haben. Die Aus- und Weiterbildung folgt dem Prinzip des learning by doing – in einem Prozess, der die Arbeit zum Teil zur Ausbildung macht und die Ausbildung zur Arbeit. Sowohl Erfahrung als auch Praxis sind essenziell für das Lernen, ein ständiges Lernen, das vor allem von der Vielfältigkeit und der Diversität dieser Erfahrungen profitiert. In diese Kontinuität aus Arbeit und Bildung werden noch Praktika eingeflochten, die für eine große Zahl der Kunstschaffenden einen wesentlichen Bestandteil der Beruflaufbahn darstellen. Die Ausbildung in den künstlerischen Berufen, die ständige Erweiterung der Kompetenzen und die Entwicklung des Know-how vollziehen sich unter einem ständigen Wechsel zwischen den verschiedenen Bildungsräumen, indem von einem Arbeitsgebiet zum anderen übergegangen wird. Beschäftigungszeit und Arbeitszeit überscheiden sich zunehmend, in einer Verkettung von bezahlten und unbezahlten Projekten. Die so genannte Professionalisierung geschieht also auf sehr unterschiedliche Weise und muss nicht immer den Weg über anerkannte Diplome, Schulen und Bildungseinrichtungen gehen. Dabei sind Spezialisierung und berufliche Vielseitigkeit kein Widerspruch im Ausbildungsweg. Die Weiterbildung, so haben es die Untersuchungen ergeben, besteht nur zum Teil aus Lernerfahrungen in diversen Praktika, hängt aber stark von den Arbeitserfahrungen ab. Sie ist daher als eine permanente Selbstbildung zu definieren, bei der Lernerfahrungen aus Praktika, Kursen und individuellen sowie kollektiven Arbeitsweisen kombiniert werden.

Kulturrisse: Das Stichwort Praktika führt uns schon zur letzten Frage: In den vergangenen Monaten haben in Frankreich die Pläne zur Einführung eines neuen Erstanstellungsvertrags für Jugendliche unter 26 Jahren (CPE, Contrat première embauche) zu Massenprotesten geführt, die letztlich die Regierung zum Einlenken zwingen konnten. Welche Dynamik hat sich zwischen den Kämpfen der Intermittents et Précaires und diesen erfolgreichen, massenhaften Protestformen ergeben?

Lazzarato: Der CPE ist ja nur ein Vertrag unter vielen Verträgen, mit denen die Beschäftigungssituation verschlechtert wurde. Das erstaunliche an den Protesten aber war, dass sie neben der großen Anzahl der Menschen, die in Paris auf die Straßen gegangen sind, auch andere Städte erreichen konnten. Insbesondere in Lille und Nantes fanden viele Demonstrationen und Universitätsbesetzungen statt. Die Bedeutung für die Intermittents möchte ich allerdings relativieren. Wenn man sich deren Entwicklung ansieht, so gab es 2001 mit der Einführung der neuen Regelung für die künstlerischen und kulturellen Aufführungsbereiche eine erste Politisierungswelle. Dann wurden 2002 auch die wissenschaftlichen Bereiche mit einbezogen, was auch hier zu einer regen politischen Auseinandersetzung geführt hat. Gemessen daran muss nunmehr festgestellt werden, dass die Dynamik der Proteste gegen den CPE stark abnahm, nachdem die Regierung weite Teile davon zurück genommen hat. Aber wie gesagt, der CPE ist nur eine unter vielen Maßnahmen, welche die Prekarität massiv verschärfen.

Kommentar

Beschäftigung, Emploi, Job: Keine Einträge gefunden?

Suchen und sich auffindbar machen. Wer hätte gedacht, dass kognitive Leistungen in der europäischen Politik je zum Thema werden. In seiner Neujahrsansprache 2006 hat Frankreichs Staatspräsident jedenfalls mit einer großen Sorge aufhorchen lassen, die tatsächlich überraschte. Europa sei in Gefahr, so warnte Jacques Chirac, ins Hintertreffen zu geraten. Wenn also nichts unternommen werde, der mächtigen Internet-Suchmaschine des US-amerikanischen Unternehmens Google ein öffentlich-rechtliches und zumindest gleichwertiges Konkurrenzsystem gegenüber zu stellen, dann werden der europäische Integrationsprozess sowie seine sozialen und kulturellen Gemeinschaftswerke aus der Wahrnehmungswelt unserer elektronisch vernetzten Wissensgesellschaft verschwinden.

Machen wir also die Probe aufs Exempel: Wer das Buch-Digitalisierungsprojekt books.google.com bemüht, um Einträge für den deutschen Begriff „Beschäftigung“ zu finden, erhält 66.700 Ergebnisse. Beim französischen Wort „Emploi“ muss man sich mit 431.000 gezählten Buchtiteln zufrieden geben, während das anglo-amerikanische „Job“ sagenhafte 6.070.000 Treffer bereit hält. Entsprechend nervös wird bereits an einem Gegenmodell gearbeitet. „Quaero“, lateinisch für „Ich suche“, soll in Hinkunft dafür sorgen, dass nicht zuletzt auch der Gallische Hahn in der Infosphäre keine Federn lassen muss.

Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen drängt sich fast der oberflächliche Eindruck auf, die Politik der kulturellen Übersetzung sei nunmehr auch im digitalen Zeitalter gelandet. Dahinter verbirgt sich allerdings ein politisches Konzept, das nach einem Upgrade für Protektionismus, Ausnahmestellungen und Identitätskonstruktionen sucht. Die plötzliche Kraftanstrengung einer Europäisierung der Informationssysteme muss daher von all jenen als blanker Zynismus gewertet werden, die schon seit vielen Jahren darum kämpfen, dass die Staaten Europas angesichts der um sich greifenden Prekarisierung von Arbeit und Leben endlich einen Kurswechsel vollziehen.

Wie sich am Beispiel der französischen „Intermittents“ ablesen lässt, sind Beschäftigungsverhältnisse und Produktionspraxen vor allem auch im Kunst-, Kultur- und Mediensektor einer rasanten Veränderung unterworfen. Der tägliche Kampf um die nackte Existenz hat sich hier schon tief in die Köpfe festgeschrieben. Der Widerstand artikuliert sich in den Straßen, die sozialen Bewegung verblüffen mit erstaunlichen Wachstumszahlen. Doch sollte die Bereitstellung von Information und Wissen in diesem Zusammenhang weder Google noch Jacques Chirac, Angela Merkel oder gar Wolfgang Schüssel überlassen bleiben. Längst haben die Verteilungskonflikte auch die Ressource Information erreicht, deren Privatisierung und Monopolisierung sich ohne jede Rücksicht auf öffentliches Interesse ihre Wege bahnen. Wer auf eine breite Demokratisierung setzt, muss hier Initiative zeigen und Santa Precaria, die Schutzheilige der neuen flexiblen Arbeitswelt, in die geheimnisvolle Welt der emanzipativen Selbstaneignung von Algorithmen führen.

Damit es nicht – ob in den USA, Europa oder sonst wo – eines Tages heißt: Beschäftigung, Emploi, Job? Keine Einträge gefunden!

Martin Wassermair

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