Die Stadt als Wald … äh Farm

In Metropolen wie New York und Los Angeles, aber auch in europäischen Großstädten wie London und auch Wien zieht Urban Farming das Interesse des städtischen Publikums auf sich: Neben tatsächlichen landwirtschaftlichen Betrieben wie zum Beispiel der Hackney City Farm sind dazu gemeinschaftlich betriebene Nachbarschafts- und Nutzgärten zu zählen.

Auf dem Dach der Wiener Staatsoper wurde im Mai 2010 ein ganzes Volk angesiedelt: 60.000 winzige Migrantinnen arbeiten, leben und sterben seitdem in einem kleinen Haus mit exklusiver Postleitzahl. Wie das bei solchen Dingen mittlerweile üblich ist – auf Probe. Die Rede ist von Bienen und einem kleinmaßstäblichen Ansiedlungsprojekt unter Beteiligung von gewichtigen Partnern wie der Raiffeisenbank, dem Technologiekonzern Kapsch und dem Lebensministerium. Bevor der Adlerhorst österreichischer Elitenkultur zum Habitat einer Insektenkolonie werden konnte, mussten aber zahlreiche Bedenken ausgeräumt werden: „Gefährden sie eventuell den Spielbetrieb oder gar die BesucherInnen der Wiener Staatsoper?“, erinnert sich Georg Springer, Geschäftsführer der Bundestheater-Holding, an seine anfänglichen Fragen und Bedenken beim Gedanken an die nichtmenschliche „Gastarbeiterinnen-Flut“. Mittlerweile haben sich die Angesiedelten bewährt und ihren ersten Winter im ersten Bezirk überlebt; sie dürfen bleiben und kriegen sogar Gesellschaft, denn die Verantwortlichen haben einem weiteren Zuzug zugestimmt – im April 2011 wurde eine weitere Kolonie angesiedelt.

Staatsoperndirektor Dominique Meyer blieb trotz österreichischer Bedenken gelassen und rückt die Aktion in den geschichtsphilosophischen und modetheoretisch-komparativen Zusammenhang des europäischen Transspezies-Urbanismus: „Bereits im Jahre 1985 wurde am Dach der Pariser Garnier Oper ein Bienenstock aufgestellt. Damals war die Aktion noch illegal, heute sind Bienen in Paris en vogue.“ Der Operndirektor freut sich schon sehr auf die Aneignung der akkumulierten Insektenkinder-Nahrung und hat bereits Pläne für die Verwertung der Erzeugnisse der Arbeiterinnen. Denn, das wisse er genau, die Pariser Oper habe gute Erfahrungen mit dem Verkauf des goldenen Nektars gemacht: „Er ist sehr begehrt – vor allem bei japanischen TouristInnen“, so Meyer. Eben noch im Magen der Bienenfrauen, schon auf der nationalen Probebühne metropolitaner touristischer Zirkulation. It comes just in time: von der Illegalität Mitte der 1980er zur staatstragenden PR-Maßnahme heute, bei der sich Kultur, Politik und Zivilgesellschaft im Zeichen des neugeborenen Green Capitalism im Kampf um die Stadt die Hand reichen.

Wir waren die Stadt, ihr Bauern

Das kleine Insektenhaus am Ring hat dabei durchaus Modellcharakter und gibt blitzlichtartig einen Bildausschnitt der transkulturellen Assemblage migrierender Menschen, Tiere, Architekturen und Raumkonzepte preis. In Metropolen wie New York und Los Angeles, aber auch in europäischen Großstädten wie London und auch Wien zieht Urban Farming das Interesse des städtischen Publikums auf sich: Neben tatsächlichen landwirtschaftlichen Betrieben wie zum Beispiel der Hackney City Farm sind dazu gemeinschaftlich betriebene Nachbarschafts- und Nutzgärten zu zählen; Urban Farming umfasst aber auch Selbsterhalterexperimente in suburbanen Hinterhöfen, kunstprojektierte Weizenfelder auf bodenkontaminierten Industriebrachen und Parkanlagen auf stillgelegten Bahntrassen. Landwirtschaftliche Techniken wie Hühner- und Bienenhaltung, deren Ausübung jahrzehntelang in innerstädtischen Bereichen verboten war, werden in jüngerer Vergangenheit in einigen Städten wieder erlaubt. Das Raumregime von Zivilisierung und Urbanisierung, das den Grad der Kultiviertheit hochmodernistisch direkt proportional zum Abstand zu Nutztieren ablas und nur in Kriegszeiten zur Erhaltung der Wehrfähigkeit temporär suspendiert wurde, wird an unterschiedlichen Orten zunehmend und in einem neuen qualitativen Verhältnis perforiert. „Wir sind die Stadt, ihr Bauern!“ verwandelt sich so zu einem „Wir Farmstadt!“ (1)

Nachhall und Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit und klimagerechtes Bauen als die stadtplanerischen Reizwörter der vergangenen zehn Jahre sind aus kaum einem Vorlesungsverzeichnis einer Architektur- oder Raumplanungsfakultät bzw. aus einem Fachzeitschriftentitel wegzudenken. Die Popularisierung des dabei verhandelten konzeptuellen und affektiven Vokabulars wird oft mit westlichen Grünbewegungen in den 1960er Jahren und Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ in Zusammenhang gebracht, das als Urwerk der Ökobewegung gilt und die Auswirkung auf Tier- und Pflanzenwelt und damit auch auf die Menschheit drastisch darstellt. In Folge gelten gemeinhin die Ölkrise 1973 und die Anti-Atombewegung als weitere entscheidende Momente der Bewusstseinsbildung breiter Öffentlichkeiten über die mögliche Endlichkeit globaler Ressourcen. Spätestens mit der Gründung der von der UN einberufenen Brundtlandt Kommission 1987 wurden die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Grüne Architektur“ Teil einer politischen Agenda und endgültig auch als neue und überaus lukrative Industrie entdeckt: Passivhaus, Solararchitektur, Erdwärmeheizsysteme, erneuerbare Energie und nachwachsende Baustoffe, Biosprit und Dreifachverglasung gehören heute – im Westen – zu den Nutznießern erheblicher Förderprogramme der Kommunen und Länder.

In ihrer Doktorarbeit verschiebt Vandana Baweja die Entstehungsgeschichte nachhaltiger Architektur und Planung aus dem nordamerikanischen Raum und aus dem Diskurs der frühen Ökobewegung der 1960er und 1970er Jahre zeitlich zurück und setzt deren Anfänge in der tropischen Architektur eines Otto Königsberger in Indien unter britischer Kolonialherrschaft an. Königsberger, deutscher Émigré, der 1933-1948 als Chefarchitekt des Hochbauamtes im indischen Mysore arbeitete, gründete 1954 gemeinsam mit den britischen ArchitektInnen Jane Drew und Maxwell Fry den Lehrgang Tropical Architecture. Schon damals traten die ArchitektInnen mit einem Heilsversprechen auf, das sich heute nahtlos in die Rhetorik einer Angela Merkel oder eines Barack Obama einfügen würde, durch „ein neues Paradigma in Architektur und Planung, das auf Energie- und Ressourcenschonung abzielt, […] durch deren verringerten Verbrauch und den Gebrauch angemessener Technologien im Dienste einer utopischen Intention den allgemeinen Lebensstandard der Armen auf globaler Ebene anzuheben“. Drew, Fry und Königsberger hatten in den Jahren zuvor im britischen Protektorat Nigeria bzw. in der britischen Kolonie Indien Erfahrung mit der Planung in tropischen Klimazonen gemacht. Königsbergers Handbuch „Manual of Tropical Housing and Building“ aus dem Jahr 1974 gilt auch heute als Standardwerk und gründet auf seinen Erfahrungen in Mysore. Das Handbuch entwirft eine Bau-Perspektive auf Grundlage klimatischer Responsiveness, vernakularer Technologien, Energieersparnis und der Verwendung lokaler Materialien – genau jener Aspekte, die auch heute als Parameter für nachhaltiges Design und Planung gelten. Königsbergers Laufbahn verbindet laut Baweja die Swadeshi-Ideologie von Autarkie und Selbstgenügsamkeit, wie sie beispielsweise von Mahatma Gandhi popularisiert wurde, mit den Diskursen modernistischer Architektur und zeigt, wie sich beide auf die Formation tropischer Architektur auswirkten.

Koloniale Architekturen und das Fieber der Moderne

Bevor Königsberger den Begriff „Tropische Architektur“ endgültig der Architekturdisziplin zuordnete, war dieser eher im Feld der Hygiene angesiedelt. Handbücher informierten über tropische Krankheiten, Körperhygiene, die Überwachung der ArbeiterInnen und vor allem auch über Baumaterialen und Konstruktion, Wasser- und Abwassersysteme sowie Belüftung. Der Auftritt des Moskitos im Feld kolonialer Architektur, Stadt und Raumplanung gab den Anstoß zu einer Reihe chemischer, baulicher und sozialräumlicher Maßnahmen und Effekten in diesem Feld: Timothy Mitchells weist darauf hin, dass Ende des 19. Jahrhunderts mit der kolonialmedizinischen Ausforschung weiblicher Moskitos als Überträgerinnen (Vektoren) von Malaria- und Gelbfieber-Erregern zum einen der Bau von noch heute eminent wichtigen globalen Verkehrswegen wie dem Panama- und dem Suez-Kanal möglich geworden war, die davor wiederholt am massenhaften Dahinscheiden der ArbeiterInnen sowie der Verminderungen ihrer Arbeitskraft gescheitert waren. Die Entdeckung weiblicher Moskitos als Vektoren für diese Krankheiten läutete zum anderen die erweiterte Kolonisierung von Regionen jenseits der Küstengebiete ein: The white man’s burden wurde zu einer Last, derer man sich durch Landschaftsgestaltung, Architekturen und der Segregation von menschlichen Populationen zu entledigen suchte.

Die Lebensgewohnheiten und Fähigkeiten von Moskitos wurden zu Maßstäben zur Reorganisation von kolonialen Städten. Da Moskitos nur drei Kilometer fliegen, wurde rund um die Wohnquartiere der Kolonialherren eine unbewohnte Zone dieses Maßes herausgeschlagen, um die Kolonialisten und die Kolonisierten räumlich zu trennen. Durch die Einrichtung von solchen Strukturen, die in den französischen Kolonien als zone neutre oder cordon sanitaire bezeichnet wurden, sollten die Kolonialherren vor einer Ansteckung durch kolonisierte Körper geschützt werden. Waren davor beispielsweise im britischen Einflussgebiet koloniale hill stations eingerichtet worden, um den Kolonialbeamten einen geschützten Lebensraum in großer Entfernung zu den sumpfigen Feuchtgebieten zu bieten, die mit ihren krankheitserregenden Gasen als Ursache von Malaria gesehen wurden („Malaria“ bedeutete wörtlich „schlechte Luft“), wurden diese nun als eine Möglichkeit gesehen, einen großen räumlichen und sozialen Abstand zu den infizierten Kolonialkörpern zu gewährleisten. Diese als barrier control bezeichnete Praxis umfasste auch die Planung, den Bau und die Einrichtung von European health quarters innerhalb von Kolonialstädten, was die Sorge vor gefährlichen Kolonialkrankheiten linderte und es Kolonialbeamten erleichterte, ihre europäischen Familien in die Kolonien zu holen – eine Periode relativer sozial-räumlicher und affektiver „Durchmischung“ kam damit zu einem Ende.

Flankiert wurde die barrier control durch Maßnahmen der vector control, also dem Kampf gegen die Überträger: Stehendes Wasser, das für Moskito-Larven geeignet war, wurde trocken gelegt und DDT mit seinen tödlichen chemischen Eigenschaft zum ersten Mal im Kampf gegen Moskitos flächendeckend eingesetzt: research and destroy. Die Kosten all dieser Maßnahmen waren enorm, ihre Effektivität blieb sehr bescheiden. Die desaströsen Auswirkungen von DDT auf Pflanzen, Menschen und Tiere wurden schließlich zum zentralen Gegenstand des eingangs erwähnten „stummen Frühlings“, der im Westen die Krise des Synthetischen einläutete. Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere zur Zeit der Dekolonisierung in den 1950er Jahren, in die eben auch die Gründung von Tropical Architecture an der AA School (Architectural Association) in London fällt, schwenkte der Diskurs um tropische Architektur seinen Fokus von der Erhaltung und Vorbeugung der Gesundheit des europäischen Körpers auf das Wohlbefinden der Einheimischen um. Die jeweils spezifischen klimatischen Gegebenheiten lösten die medizinischen Parameter als bauliche Motive ab und fanden über Fragen bauphysikalischer und konstruktiver Natur ihren Eingang in die Architekturdebatte um energieeffizientes Bauen an Orten mit limitiertem technologischem Zugang.

Wie sich in den Städten der Zukunft Fragen von Architektur und Räumlichkeit mit Migrationsbewegungen und Neokolonialismen unterschiedlicher Dimensionen verbinden werden, muss an dieser Stelle offen bleiben. Ein scharfer Blick auf bislang vernachlässigte Aspekte ihrer Formgeschichte im Kontext der Dekolonisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts verweist auf die Notwendigkeit, eine radikale Multiakteurs-Perspektive einzunehmen: Räume und Orte sind geprägt durch kontinuierliche Wechselbeziehungen und den Austausch individueller und historischer Einschreibungen einer Vielzahl an AkteurInnen – auch nichtmenschlichen. Diese Prozesse sind, wie oben gezeigt, zum einen niemals rein örtlich fixiert, sondern setzen sowohl die Disziplin der Stadtplanung als auch die damit verbundenen Debatten über Umwelt und Nachhaltigkeit in einen größeren geografischen Zusammenhang. Zum anderen behausen Bienenvölker und Moskitoschwärme diese Gemengelage und zeigen unter anderem jene Grenzen auf, die technologische Allmachtsfantasien und sozialpolitische Heilsversprechungen in ihre Schranken weisen: „...human agency appears less as a calculating intelligence directing social outcomes and more as the product of a series of alliances in which the human element is never wholly in control“ (Mitchells 2002: 10).

 

Fußnoten
(1) Für relativ unterschiedliche Phänomene wird ein teils überlappendes Vokabular in Stellung gebracht. So handelt es sich beispielsweise bei „Vielfalt Leben“ weder um ein sexualpolitisch engagiertes Kultur- oder Kunstprojekt noch um eine Initiative für oder gar von MigrantInnen, sondern um dasjenige Umweltschutz–Netzwerk, das den Bienenstock von der grünen Wiese an die Staatsoper holte.

Literatur
Baweja, Vandana (2008): A pre-history of Green Architecture: Otto Koenigsberger and Tropical Architecture, from Princely Mysore to post-colonial London. Ann Arbor, Proquest: Mich. UMI.

Mitchell, Timothy (2002): Rule of Experts: Egypt, Techno-Politics, Modernity. Berkeley: University of California Press.

 

Christina Linortner hat Architektur und Visuelle Kulturen studiert.

Fahim Amir ist Philosoph und Kulturtheoretiker.

Sie sind Teil des künstlerisch-wissenschaftlichen WWTF-Forschungsprojekts „Model House – Mapping Transcultural Modernisms“ an der Akademie der Bildenden Künste, das das Netz von Begegnungen, die transkulturellen Verbindungen und lokalen Aneignungen der Architekturmoderne mappt, wie sie sich auf spezifische Weise in Nordafrika, Indien und China realisierte. Das Projekt fokussiert auf bislang vernachlässigte Beziehungen und Akteure, die an der Realisierung von Architekturprojekten beteiligt waren, die nicht nur für westliche Gesellschaften Modellcharakter hatten. Siehe: www.transculturalmodernism.org.

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