Projekträume im Berliner Kunstfeld

Berlin strahlt bundesweit und international ein außergewöhnliches Bild aus, das durch Freiheit, Experimentalität und Dynamismus gekennzeichnet ist. Dieses Bild wird maßgeblich von der freien Kunstszene geprägt. In Berlin gibt es etwa 150 Projekträume – und zwar alleine im Bereich der zeitgenössischen Kunst.

Zur Entwicklung und aktuellen Situation

Berlin strahlt bundesweit und international ein außergewöhnliches Bild aus, das durch Freiheit, Experimentalität und Dynamismus gekennzeichnet ist. Dieses Bild wird maßgeblich von der freien Kunstszene geprägt. In Berlin gibt es etwa 150 Projekträume – und zwar alleine im Bereich der zeitgenössischen Kunst. Dieses Phänomen ist, nicht nur was seinen Umfang betrifft, weltweit einzigartig. Ausschlaggebend für die vergleichsweise hohe Anzahl von Projekträumen ist bzw. war die großzügige Raumsituation, in der sich diese etablieren konnten. Diese Situation hat zu einer spezifischen Strukturierung der Kunstproduktion und -rezeption geführt, die eher atomisiert und polyzentrisch ist und in den Zusammenhang mit dem von Negri und Hardt geprägten Modell der Multitude gesetzt werden kann. Im Folgenden möchte ich sowohl den historischen Rahmen vorstellen, als auch ein Bild von der aktuellen Situation der Projekträume skizzieren.

Der Begriff „Projektraum“ wird zwar immer geläufiger, ist jedoch bislang keineswegs ein etablierter Begriff. Er bezeichnet eine Organisationsform im Kunstfeld, die selbst auf eine längere Geschichte zurückblickt. Allerdings haben sich die Vorgänger der Projekträume selbst anders bezeichnet: als Galerie, Ausstellungsraum, Ausstellungsort, Selbsthilfe-Galerie, Galerie-Wohnung, Artist-run-spaces usw. Was mir aber erlaubt, von einer Kontinuität zu sprechen, sind vier Definitionskriterien: Erstens ist die Initiative ein Raum, in dem experimentelle, diskursive und spartenübergreifende Kunstpraktiken produziert und – zweitens – einem Publikum gezeigt werden. Drittens agiert der Projektraum nicht-kommerziell, und viertens wird er von der öffentlichen Hand nicht strukturell unterstützt. Im Rahmen meiner Untersuchung habe ich ein Archiv im Format einer interaktiven Karte aufgebaut,(1) welche die Lage der Projekträume seit 1970 erfasst: Jeder Projektraum wird geolokalisiert, mit Internetseite, Gründungs- und Schließungsjahr nachgewiesen. Die Entwicklung der Projektraumszene seit den 1970er-Jahren kann in drei Phasen unterteilt werden: zunächst die parallele Entwicklung bis zum Mauerfall, die „verrückte Zeit“ der 1990er-Jahre sowie die Explosion der 2000er-Jahre.

Die Pionier-Zeit

Die Pionier-Zeit während der Teilung war eine Zeit der Nischenkultur, sowohl in West- als auch in Ostberlin. Die Motivationen, um sich zu separieren, waren unterschiedlich begründet, die Suche nach Unabhängigkeit anders bestimmt: Einerseits ging es um die Unabhängigkeit vom Staat, andererseits um die Unabhängigkeit vom Markt. In Westberlin sind erstmals Projekträume in Schöneberg entstanden und haben sich dann weiter in Kreuzberg entwickelt. Die besondere Lage von Westberlin als Insel und ihre entsprechenden Sonderregelungen sowie der politische Aufstand von 1968 haben zu einer Aufbruchstimmung geführt, die sich auch im Kunstfeld widergespiegelt hat, wo viel experimentiert wurde. Das ikonischste Beispiel hierfür stellt die KünstlerInnengruppe Tödliche Doris dar. Der Berliner Kunstkritiker Peter Funken erzählt in diesem Zusammenhang von der sogenannten „Kreuzberger Ökonomie“, einer Nischen-Existenz, in der Leute von fast nichts leben konnten. Man hatte als Experimentierraum eine kleine Wohnung mit Toilette im Treppenhaus und Kohleheizung gemietet, in der neue Formen von Gemeinschaft und Kunst nicht nur diskutiert, sondern auch erprobt wurden. Weitere bekannte Beispiele sind das Büro Berlin, aber auch der Laden für Nichts oder die Hotelpension am Nürnberger Eck.

In Ostberlin sind die meisten Projekträume in Prenzlauer Berg entstanden. Es gab einige Räume, aber wie in Kreuzberg war die Szene relativ überschaubar. Die AkteurInnen aus der Zeit legen in ihren Erzählungen den Akzent auf drei wichtige Punkte: Zwar strebten die BetreiberInnen nach Unabhängigkeit gegenüber den staatlichen Vorgaben über Kunst – sie wollten ein eigenes, subjektives Engagement entwickeln. Jedoch war eine Unabhängigkeit gegenüber dem Staat nur bedingt möglich. Die „autonome Kunst“ wurde von der Stasi von innen beobachtet. Letztlich gab es eine enge Beziehung zur Literatur-Szene, viele Ausstellungsräume organisierten Lesungen, MalerInnen und DichterInnen arbeiteten zusammen. Die Projekträume waren vor allem temporär angelegt, manchmal nur für eine Ausstellung oder für einen Abend. Es gab keine feste Struktur, da sie nicht wirklich erlaubt bzw. vorgesehen waren. Berühmte Beispiele sind die Galerie Deloch, die Galerie Jürgen Schweinebraden oder Rot-Grün. Bemerkenswert ist der Austausch zwischen den beiden Kunstszenen noch vor dem Mauerfall. Die Szenen waren nicht komplett hermetisch gegenüber einander: So hat Schweinebraden etwa viele KünstlerInnen aus Westberlin eingeladen, damit sie in den Räumen in der Dunckerstraße ausstellten.

Nach der Wende

Als die Mauer fiel, wurde insbesondere Mitte zum Treffpunkt, also tatsächlich die geografische Mitte zwischen den beiden Szenen, zwischen Kreuzberg und Prenzlauer Berg. Zwei Haupttreffpunkte waren damals Tacheles und der neu gegründete Gemeiner Kunstverein in der ehemaligen Margarine-Fabrik in der Auguststraße, die noch nach altem Fett stank und aus der schon 1992 die Kunst-Werke werden sollten. Die Zwischennutzung galt als goldene Regel. Schauplätze dieser Entwicklung waren zunächst Brachgelände, Ruinen und unsanierte Gebäude. Es entstanden enge Vernetzungen mit der Club-Szene und insbesondere mit der Technomusik. Künstler wie Daniel Pflumm oder Projekträume wie Botschaft e.V. mit seiner Bar Friseur haben diese Schnittstelle verkörpert. In den 2000er-Jahren ist die Anzahl der Projekträume signifikant gestiegen: Innerhalb des Jahrzehntes erfolgten über 100 Neugründungen. Die Räume haben sich dabei in neuen Bezirken niedergelassen, insbesondere in Wedding und in Neukölln, die inzwischen neue Zentren bilden. Betrachtet man die Entwicklung seit 2010, ist bemerkenswert, dass Neugründungen seit zwei Jahren signifikant zurückgehen: Während zwischen 2006 und 2010 noch etwa 15 bis 20 Neugründungen pro Jahr erfolgten, wurden 2011 deutlich weniger als zehn Projekträume und 2012 genau fünf Projekträume neu gestartet.

Auf der interaktiven Karte ist es nicht nur möglich, die Neugründungen nachzuvollziehen, sondern auch die Schließungen: Bisher konnten 40 Projekträume erfasst werden, die geschlossen haben. Der Höhepunkt der Schließungen war 2009 erreicht, was sich insbesondere im Rahmen der Stadtentwicklung nachvollziehen lässt. Ein Schlüsselbegriff ist in diesem Kontext „freie Räume“: Die Projekträume konnten in Berlin entstehen und sich entwickeln, weil es hier ausreichend freie Flächen und Improvisationsräume gab. Die Projekträume zeichnen im Voraus den Zug der Gentrifizierung auf. Sie werden nach der Rehabilitierung und Renovierung eines Bezirks in der Regel verdrängt und ziehen weiter oder schließen.

Künstlerisches, kulturelles und soziales Anliegen

In ihrer Selbstbeschreibung definieren die Projekträume ihr künstlerisches Anliegen als Angebot von „Raum für eine künstlerische Praxis, die mehr prozess- als produktorientiert ist, einen kollaborativen und/oder partizipativen Ansatz verfolgt, die dialogische und/oder diskursive Formate einsetzt“ (aus dem Positionspapier des Netzwerks freier Projekträume und -initiativen). Projekträume sind dementsprechend nicht nur Räume, in denen Kunstwerke präsentiert werden, sondern in denen sie auch geschaffen, kommentiert, präsentiert, überlegt, miterlebt und mitproduziert werden. Interdisziplinarität, Partizipation, Interaktion und Prozesshaftigkeit sind Schlüsselwörter für die von und in den Projekträumen geleistete künstlerische Arbeit. Das kulturelle Anliegen der Projekträume zeigt sich vor allem durch die Ausrichtung regelmäßiger öffentlicher Veranstaltungen mit regem Publikumsbesuch. Das Zeigen von Kunst als wichtigste Aufgabe von Projekträumen wurde bereits in einer vom Institut für Strategieentwicklung (IFSE 2011) durchgeführten Umfrage zur Situation der Berliner KünstlerInnen hervorgehoben. Dieser Umfrage zufolge haben 48,7 Prozent der befragten KünstlerInnen in den letzten drei Jahren ihre Arbeiten in einem Projektraum gezeigt. In meiner Studie können weitere Belege für diese massive Beteiligung erbracht werden: Es sind durchschnittlich fünf Ausstellungen im Jahr pro Kunstraum. Nun liegt die Zahl der Kunsträume in Berlin bei etwa 150, das heißt, dass die jährliche Ausstellungsanzahl in den Berliner Projekträumen um die 750 beträgt. Im Durchschnitt präsentiert ein Kunstprojektraum die Werke von 20 KünstlerInnen im Jahr. Diese Größenordnungen zeigen, wie sehr die Projekträume zur Sichtbarkeit der Kunst in Berlin beitragen. Letztlich verfolgen die Projekträume ebenfalls ein soziales Anliegen: Sie bilden Plattformen für die Vernetzung von KünstlerInnen und KuratorInnen. Da sie viele KünstlerInnen aus dem Ausland empfangen und ausstellen, bilden sie ebenso ein internationales Forum für das Kunstfeld. Sie sind die zahlreichen Türen, die Nicht-BerlinerInnen den Zugang zum Berliner Kunstfeld ermöglichen. Hier wird die Rolle der Projekträume als das Herz des Berliner Kunstfeldes besonders deutlich.

Organisationsform

In meinen Recherchen konnte ich feststellen, über welche Ressourcen, ob finanzielle oder humane, die Projekträume verfügen. Das erste Ergebnis betrifft die juristische Form: 47 Prozent der befragten Projekträume geben an, dass sie keine juristische Form haben. Das zeigt ihren Vorbehalt gegenüber der Bürokratie und gegen eine aus ihrer Sicht unnötige Kategorisierung. Das zweite Ergebnis betrifft die Beschäftigungsverhältnisse: Im Durchschnitt sind ca. sechs Personen direkt am Betrieb eines Projektraums beteiligt. Geht man davon aus, dass es in Berlin ca. 150 Projekträume gibt, heißt das, dass es ca. 900 Personen sind, die sich alltäglich aktiv an einem Projektraum beteiligen. Die Arbeitsverhältnisse verteilen sich dabei wie folgt: 71 Prozent arbeiten ehrenamtlich, der Rest Vollzeit, Teilzeit oder im Rahmen des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors. Das dritte Ergebnis betrifft die wirtschaftliche Situation der Projekträume: 67 Prozent der befragten Projekträume geben an, dass sie mit weniger als 5.000 Euro im Jahr wirtschaften. Was die Finanzierungsquellen betrifft, geben 92 Prozent der befragten Projekträume an, sich vorwiegend über eigene Finanzierungsmittel bzw. „aus der eigenen Tasche“ zu finanzieren. Daran lässt sich nachvollziehen, wie ein Projektraum funktioniert: Das Budget besteht wesentlich aus persönlichen Beiträgen, die zum großen Teil in Mietkosten fließen. In den meisten Fällen können sich die Projekträume nur über Zwischennutzungsverträge räumlich niederlassen, was sie verhältnismäßig verwundbar macht. Das übrige Budget wird minimalen Produktionskosten zugewiesen. Die Arbeit, die in Projekträumen geleistet wird, ist in der Regel unbezahlt. Die ProjektraumbetreiberInnen thematisieren dieses Problem mit unterschiedlichen Begriffen: einerseits mit „Unabhängigkeit“ und „Selbstorganisation“, zugleich aber immer auch mit „Selbstausbeutung“ oder „Ausgebrannt-Sein“. In der Tat kommt es oft zu Erschöpfungsmomenten, da selbstorganisierte KünstlerInnen parallel zu ihren Neben- und variablen Broterwerbsjobs – und selbstverständlich auch parallel zu ihrer künstlerischen Tätigkeit – auch noch einen Projektraum betreiben.

Hier wird klar, wie prekär die Situation der Projekträume ist und wie die Beschränkung der Möglichkeiten durch die jüngste Entwicklung des Verschwindens von Freiräumen in Berlin – besonders bemerkbar im Zuge des spekulativen Verkaufs von ganzen Stadtvierteln und der damit verbundenen Mietpreissteigerungen – ihre Existenz nachhaltig gefährdet.

Séverine Marguin ist Doktorandin an der Leuphana Universität Lüneburg und an der École des Hautes Études ena Sciences Sociales von Paris.

Literatur

Marguin, Séverine (2012): „Projekträume: vitales aber fragiles Herz der Berliner Kunstszene“. In: vonhundert 100, 04/12.

Institut für Strategieentwicklung (2011): Zur Situation der Berliner Künstler www.ifse.de/html/studio_berlin.html

Fußnote

(1) Besonderer Dank für seine Unterstützung gilt hier dem Programmier Erik Streb: www.projektraeume-berlin.net/interaktivekarte

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