Das Unbehagen in der Kultur. Beobachtungen aus dem Kulturfeld in Zeiten des französischen Präsidentschaftswahlkampfs

Wenige Wochen vor den beiden Wahlgängen zur Präsidentschaftswahl am 22. April und am 6. Mai kommt das Thema Kultur in der politischen Debatte kaum vor. In allen Parteiprogrammen finden sich zwar wohlklingende Leitsätze zur Kulturpolitik, im Wahlkampf spielen sie so gut wie keine Rolle. Dieses Fehlen ist umso erstaunlicher in einem Land, welches sich über seine kulturellen Traditionen definiert.

Kultur kein Thema?

Wenige Wochen vor den beiden Wahlgängen zur Präsidentschaftswahl am 22. April und am 6. Mai kommt das Thema Kultur in der politischen Debatte kaum vor. In allen Parteiprogrammen finden sich zwar wohlklingende Leitsätze zur Kulturpolitik, im Wahlkampf spielen sie so gut wie keine Rolle. Dieses Fehlen ist umso erstaunlicher in einem Land, welches sich über seine kulturellen Traditionen definiert, welches stolz darauf ist, im Rahmen der „exception française“ – der „französischen Ausnahme“ – den Kulturbereich vor den sonst geltenden Marktregeln im globalen Wettbewerb zu schützen, und wo Intellektuelle und Kulturschaffende immer wieder in die öffentliche Diskussion eingreifen. Die Zeitschrift „Cassandre/horschamp“ publizierte deswegen vor kurzem einen dringlichen Appell, in dem die PräsidentschaftskandidatInnen aufgefordert werden, kulturpolitische Ziele zu formulieren: „Die von Kunst und Denken getragenen immateriellen Werte, Kernpunkte unserer gemeinsamen historischen Identität, werden in einer völlig dem Neoliberalismus unterworfenen Gesellschaft keinen Platz mehr haben“ (horschamp.org). Das Schweigen über kulturelle Fragen ist so auffällig, dass sich anlässlich des 30. Geburtstags des Centre Georges-Pompidou Ende Jänner auch der amtierende Präsident Chirac bemüßigt fühlte, für die weitere Debatte zu fordern, dass man „auch über Kultur sprechen“ müsse.

Rechtsruck der Intellos?

Andere Themen beherrschen den Wahlkampf: Wirtschaft, Beschäftigung, Immigration, Wohnen, Staatsreform und das Verhältnis zu Europa. Das extrem mediatisierte Duell zwischen dem Innenminister Nicolas Sarkozy (UMP)[1] und der Sozialdemokratin Ségolène Royal sehen viele als eine unbefriedigende Alternative zwischen Sarkozys Idee einer „rupture“, einer harten kapitalistischen Umstrukturierung einerseits, und einer softeren Anbindung ans neoliberale Europa andererseits, die bei „Ségo“ im Gewand einer „partizipativen Demokratie“ daherkommt. Dass der Zentrist François Bayrou in den letzten Wochen in allen Umfragen signifikant gestiegen ist und somit das Duell Sarko-Ségo um den „Dritten Mann“ erweitert wurde, resultiert auch aus dem Überdruss am medialen Overkill. Nachdem Medienintellektuelle wie André Glucksmann u. a. öffentlich Partei für Sarkozy genommen haben, diagnostiziert das Wochenmagazin „Le nouvel Observateur“ einen regelrechten „Rechtsruck der Intellos“. In dieser Situation fällt das Fehlen von Intellektuellen wie Jacques Derrida, Pierre Vidal-Naquet und Pierre Bourdieu schmerzlich auf. Dass zuletzt Étienne Balibar, Robert Castel u. a. unter dem Titel „Sarkozy besiegen, jetzt“ dazu aufriefen, Royal zu wählen, um Sarkozy abzuwenden, den sie als eine gefährliche Mischung aus Margaret Thatcher und Silvio Berlusconi beschreiben, beweist, wie stark in der Defensive die Linke in Frankreich ist.

Ein Louvre am Golf

Dabei ist das Fehlen kulturpolitischer Themen in der öffentlichen Debatte symptomatisch: Diese passen nicht in den Bezugsrahmen marktorientierten Denkens, welches sich kulturell in der Spaltung zwischen elitärer Hochkultur und kommerzieller Spektakelkultur ausdrückt. Die universalistischen, demokratischen und sozialen Funktionen des kulturellen Feldes werden unterminiert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die jüngste Debatte um das Franchising des Labels „Louvre“: Der französische Kulturminister unterzeichnete einen Vertrag, der es den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) erlaubt, in Abu Dhabi einen „Louvre“ zu installieren, ein luxus-touristisches Renommierprojekt, welches auf Jahrzehnte hinaus mit Leihgaben aus Paris bestückt werden soll. Gegen den 700 Mio. Euro schweren Deal mit der repressiven Petro-Monarchie unterschrieben 3000 Prominente eine Petition mit dem Titel „Die Museen sind nicht zu verkaufen!“ Die Abwicklung des Kulturexports vor den Wahlen ist auch vor dem Hintergrund eines anderen Deals zu sehen: Die VAE bestellten 40 Flugzeuge des Typs Airbus 380. Nachdem einige Kunden wegen Lieferschwierigkeiten abgesprungen sind, hofft die französische Regierung sicher auch, mit dem „Louvre am Golf“ einen Kunden günstig zu stimmen.

Kämpfe um die Medien

Die politischen Eliten sind mit den privaten und öffentlich-rechtlichen Medien stark vernetzt, diese sind in den letzten Jahren immer stärker in den Einfluss von privaten Akteuren geraten. So werden etwa 80% der Presse von einigen wenigen Konzernen wie Lagardère SCA oder dem Rüstungsgiganten Dassault kontrolliert. Privatsender wie TF1 und Canal+ stehen dem Arbeitgeberverband MEDEF nahe. Ségo und Sarko schwimmen wie Fische im Wasser dieses medialen Setups. In der mediatisierten Kultur werden Fernsehen und Presse zu bevorzugten Feldern der Auseinandersetzung. Initiativen des „Dritten audiovisuellen Sektors“ (neben dem öffentlich-rechtlichen und dem privaten) sehen die grundlegende demokratische Funktion der Medien in Gefahr: Die „Generalstände für pluralistische Medien“ (www.etats-generaux-medias.org) fordern ein Anti-Konzentrationsgesetz, eine Rundumerneuerung der Medienkontrollbehörde CSA, sowie eine Debatte über die Entprivatisierung von TF1. Im Jänner entlehnte eine Film- und Diskussionsreihe in der Banlieue Saint-Denis ihren Titel „Media Crisis“ einem Buch des Filmregisseurs Peter Watkins, der darin eine tiefgreifende Krise der Medien konstatiert. Präsentiert wurden u. a. Projekte wie Zalea TV (www.zalea.org) und das Projekt „Demokratische Nachrichten im Kino“, welches versucht, eine Form des frühen Kinos zu erneuern, indem als Vorprogramm kurze „Nachrichten“ gezeigt werden, die mit Wohnungslosen oder Jugendlichen in den Banlieues gemacht wurden. Das Web-Projekt „100jours“ veröffentlicht 100 Tage vor dem Wahltermin täglich kurze Stream-Videos, die versuchen, der spektakulären Oberfläche der Mediendemokratie ihre pure Subjektivität entgegenzuhalten (www.100jours.org).

Banlieue werden

Die Revolte in den Banlieues hat im November 2005 gewaltige soziale Brüche in der französischen Republik sichtbar gemacht. Deutlich ist die Vorsicht und Nervosität der politischen Klasse vor dem potenziellen Unruheherd in den „sensiblen urbanen Zonen“. Kurz vor dem Jahrestag der Unruhen finanzierte der Sarkozy-nahe Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabre ein denkwürdiges Event: KünstlerInnen der Banlieues wurden eingeladen, an einem Oktoberwochenende im pompösen Grand Palais aufzutreten. Betuchtes Innenstadtpublikum und TouristInnen flanierten durch das in der Belle époque erbaute Weltausstellungsgebäude und bewunderten die virtuosen Darbietungen von Skatern, HipHopperInnen, TänzerInnen und Graffiti-KünstlerInnen. Unter den auftretenden KünstlerInnen fanden sich auch solche, die von Sarkozy beschuldigt worden waren, mit ihren Texten die Revolte mitverursacht zu haben. Während viele sich nicht am 800.000-Euro-Spektakel beteiligten, erklärte der Rapper Sefyu: „Das ist gut, die Rechte finanziert unsere Anti-Sarko-Kampagne.“ Jenseits solcher Vereinnahmungsversuche wird andernorts über die Revolte reflektiert: „Cassandre/horschamps“ veröffentlichte zwei Hefte unter dem Titel „Contrefeux (Gegenfeuer)“ zur Kunst in den Banlieues. Der Philosoph Toni Negri lädt AktivistInnen und TheoretikerInnen in ein Seminar mit dem Deleuzianischen Titel „Banlieue werden“, um die Banlieues in eine neue Konzeption der „metropolitanen Produktion“ einzuschreiben. Was die Wahlen angeht, ist ein Trend in den Pariser Vorstädten noch deutlicher als sonst überall: Bis zu 40% der Wahlberechtigten werden nicht wählen gehen. Nicht nur hinsichtlich der Rolle der Medien, auch was die Nichtbeteiligung an der repräsentativen Demokratie anbelangt, ist „Frankreich (...) auf dem Weg zur Amerikanisierung der Wahlen.“ (J.-Y. Dormagen)

Intermittents gegen Prekarisierung

Auch der Konflikt zwischen den „intermittents“, den diskontinuierlich im Kulturbereich Beschäftigten und der Regierung ist kurz vor den Wahlen kaum sichtbar. Seit Juni 2003 wehren sie sich mit spektakulären Aktionen gegen die neoliberale Aushöhlung ihres sozialrechtlichen Status. Damals hatte eine vom Arbeitgeberverband MEDEF und reformistischen Gewerkschaften beschlossene Reform der Sozial- und Arbeitslosenversicherung der Intermittents Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten geschaffen: Die Reform wendete sich ab vom Prinzip der „mutualité“ – der gegenseitigen, interprofessionellen Versicherungssolidarität – zu einem Konzept, welches die Konkurrenz unter den Intermittents verstärkte und über 30.000 Kulturschaffende aus dem Versicherungsschutz ins „freie Unternehmertum“ drängte. Etwa 100.000 im audio-visuellen und filmischen Bereich (20%) oder in den Metiers der „spectacles vivantes“ Tätige (Tanz, Theater, Zirkus, etc.; 80%) genießen den Status des Intermittent. Doch viel mehr noch zahlen in den Versicherungstopf ein, ohne Leistungen zu erhalten, weil sie die notwendige jährliche Summe von 507 Arbeitsstunden nicht erreichen. Die „Reform“ von 2003 erschwerte den Zugang zu diesem Status und privilegierte treffsicher die beim Fernsehen arbeitenden Techniker. In dutzenden Gruppen organisierten sich daraufhin Tausende, um den von Léon Blums Volksfront-Regierung 1936 zunächst nur für die FilmarbeiterInnen geschaffenen und nach 1945 auch auf andere Gruppen ausgeweiteten Versicherungsstatus zu verteidigen. Max Vizuete von der „Coordination des intermittents et précaires d'Île-de-France“ (www.cip-idf.org) zufolge geht die Bedeutung des Kampfs der Intermittents weit über die unmittelbar Betroffenen hinaus: „Die Akteure der Reform sehen den Kulturbereich als Teil des Dienstleistungssektors. Dieser soll im Sinne des GATS neoliberal restrukturiert werden. Sarkozy will das Arbeitsgesetz möglichst aushebeln und alles über Verträge zwischen Unternehmern und Arbeitenden regeln. Der Staat erfüllt eine Nachtwächterfunktion. Die Idee des CPE, eines Erstanstellungsvertrags für Jugendliche unter 26 Jahren, ging in dieselbe Richtung. All das führt zu einer allgemeinen Verschärfung der Prekarität. Wir kämpfen für unseren Versicherungsschutz, der demoliert werden soll, damit ihn nicht die vielen weiteren Prekarisierten auch für sich reklamieren können.“ Was die Kultur anbelangt, ist er mit Blick auf den Wahlkampf nüchtern: „Worum es kulturell in der gegenwärtigen Politik einzig geht, das ist die Kultur der ‚Star Academy’.“[2]

„Die Kandidaten sprechen (endlich) über Kultur“

Unter diesem Titel veröffentlichte die Zeitschrift „Télérama“ am 23. Februar doch noch kurze Stellungnahmen der PräsidentschaftskandidatInnen zu ihren kulturpolitischen Zielen. In einigen Punkten sind sich (fast) alle einig: Aufrechterhaltung des staatlichen Engagements im Kulturbereich, Demokratisierung des Zugangs zur Kultur, Unterstützung der Kulturschaffenden, Wahrung der AutorInnenrechte, Bedeutung der Kunsterziehung in den Schulen. Visionäre Antworten auf die Fragen, vor die sich kulturpolitisches Handeln angesichts der gesellschaftlichen Fragmentierung, der Globalisierung und der Digitalisierung gestellt sieht, findet man kaum: Die Kommunistin Marie-George Buffet stellt fest, dass Kultur keine Ware sei und fordert ein Kulturbudget von 1% des BIP. Dominique Voynet von den Grünen fordert 1% des Budgets und will in öffentlichen TV-Sendern Werbung verbieten, um die Informationsfreiheit zu gewährleisten. Ségolène Royal spricht von einem „fundamentalen Recht auf Kultur“, meint aber auch, dass diese ein „Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung“ sei. Sie schaffe „Wertschöpfung, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt“. François Bayrou (UDF) meint, dass „sich im Internet ein neues Modell menschlicher Entwicklung abzeichnet“. Nicolas Sarkozy sieht drei kulturpolitische Aufgaben des Staates: „die Erhaltung und Verwertung des Kulturerbes“, „die Unterstützung der künstlerischen Produktion“, wobei neben dem Staat Firmen und Mäzene stärker ins Spiel gebracht werden sollen, sowie „die künstlerische Erziehung und Demokratisierung“, eine Forderung, die er sogleich von der egalitären „Ideologie des Mai 68“ unterschieden haben will. Jean-Marie Le Pen (FN) schließlich bekennt den Journalisten von Télérama, dass ihn Militärmusik gelegentlich zu Tränen rühre und weshalb er selten ins Kino gehe: „Zu gefährlich: ‚sie’ rufen sich am Handy an und warten dann zu Fünfzigst am Eingang auf mich.“

1 Als Innenminister zeichnete er 2006 für 24.000 Abschiebungen verantwortlich.

Peter Grabher ist Historiker und Filmaktivist, Mitglied von kinoki, lebt derzeit in Paris.

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