Enthaltsamkeit, Treue und Moral in der AIDS-Politik

George W. Bush’s Emergency Plan For AIDS Relief. Über die internationale AIDS-Politik der US-Regierung erweiterte die Religiöse Rechte ihre politische Einflusssphäre.

2003 kündigte George W. Bush überraschend an, HIV/AIDS zum Schwerpunktthema der US-amerikanischen Entwicklungspolitik zu machen und die dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel beträchtlich zu erhöhen. Mit dem U. S. President’s Emergency Plan For AIDS Relief (PEPFAR) wurde eine völlig neue entwicklungspolitische Institution geschaffen, die mit dem Ziel antrat, für zwei Millionen HIV-infizierte Menschen in Ländern des Südens die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten sicherzustellen und sieben Millionen Neuansteckungen zu verhindern. Dafür wurden zunächst 15 Milliarden US Dollar für die ersten fünf Jahre zur Verfügung gestellt – eine Summe, die mittlerweile mehr als verdreifacht wurde.

PEPFAR ist vor allem als Initiative zur Finanzierung von antiretroviralen Medikamenten bekannt und als solche gefeiert worden. Von Anfang an übten jedoch nationale und internationale AIDS-, LGBT- und Menschenrechtsaktivist_innen Kritik an der rückschrittlichen Politik, die im Bereich der Prävention auf Enthaltsamkeitsprogramme setzte und über gesetzlich festgelegte Einschränkungen für die Vergabe von Fördergeldern darauf abzielte, bestimmte moralische Wertvorstellungen in die Zielländer zu „exportieren“.

Die Kritik richtete sich vor allem gegen die folgenden Punkte:

(1) 33 Prozent der Gelder für den gesamten Bereich der HIV/AIDS-Prävention mussten an sogenannte Abstinence-Only oder Abstinence-Until-Marriage-Programme vergeben werden.

(2) Auf Basis der Mexico City Policy (oder: Global Gag Rule) konnten keine Organisationen Fördergelder erhalten, die Abtreibungen durchführten oder diese auf irgendeine Art unterstützen, zum Beispiel über Beratungsangebote oder indem sie sich für deren Legalisierung einsetzten.

(3) Organisationen müssen, um Fördergelder erhalten zu können, ihre dezidierte Ablehnung von Sexarbeit erklären (Anti Prostitution Pledge), wodurch eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Sexarbeiter_innen ausgeschlossen wird.

Diese Politik steht damit im Widerspruch zu internationalen Aushandlungen etwa auf der Ebene internationaler AIDS-Konferenzen, die in der HIV/AIDS-Politik spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt auf die Etablierung Sexueller Rechte als Teil der Menschenrechte setzen. Schutz vor Diskriminierung und Gewalt und der verbesserte Zugang zu Prävention, Behandlung und Pflege insbesondere für marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie LGBT, Sexarbeiter_innen und Drogenkonsument_innen werden dabei als essenziell betrachtet, um erfolgreich gegen die Ausbreitung von HIV/AIDS vorgehen zu können.

Aufgrund der Einschränkungen in Bezug auf Abtreibungen und Sexarbeit verloren Organisationen, die zuvor wichtige Arbeit im Bereich HIV/AIDS geleistet hatten und dazu beitrugen, die materielle, rechtliche und gesundheitliche Situation vor allem von Frauen zu verbessern, den Zugang zu Fördergeldern. Gleichzeitig wurden finanzielle Förderungen mehr und mehr auf konfessionelle Organisationen, sogenannte faith based organisations (FBOs) umgelenkt und damit christliche Wertvorstellungen und Verhaltensregeln in der Präventionsarbeit gestärkt. PEPFAR bedeutet einen politischen Rahmen für die Verteilung von (viel) Geld – und tendenziell die Förderung konservativer bis christlich-fundamentalistischer Akteur_innen über die Töpfe der AIDS-Politik.

ABC und Abstinence-Only

In der Präventionsarbeit verbreitete die US-Regierung den Slogan „Abstain, Be Faithful, use Condoms“ (das sogenannte ABC der Prävention), wobei die Aufforderung zu Enthaltsamkeit und Treue betont wurde, während Kondome in erster Linie unter „Risikogruppen“ wie men who have sex with men (MSM), Sexarbeiter_innen und Drogenkonsument_innen verbreitet werden sollten.

Ein Drittel der Gelder für den Bereich der Prävention wurde an sogenannte Abstinence-Only- Programme vergeben, die ursprünglich als moralisches Gebot und zum Schutz vor ungewollten Schwangerschaften in einem christlichen, vor allem evangelikalen Kontext verbreitet waren und mit PEPFAR auch in der internationalen HIV/AIDS-Arbeit institutionalisiert wurden. In diesen Programmen soll Jugendlichen vermittelt werden, dass Enthaltsamkeit bis zur Ehe (und Treue innerhalb der Ehe) den einzig wirksamen Schutz vor einer HIV-Infektion bieten. Sexualaufklärung und Informationen über Verhütungsmittel sind in diesen Programmen nicht vorgesehen, um keine „verwirrenden Botschaften“ auszusenden und Jugendliche dazu „zu ermutigen“, sexuell aktiv zu werden. Im Rahmen von PEPFAR wurde dementsprechend von den ausführenden Organisationen erwartet, über Enthaltsamkeit zu sprechen, nicht aber über Kondome und andere Verhütungsmittel zu informieren. Vielmehr blieb es den Organisationen überlassen, Maßnahmen zur Prävention und Behandlung nicht umzusetzen, wenn sie diese aus religiösen oder moralischen Gründen ablehnten.

Seit 1981 (dem Jahr des Amtsantritts von Ronald Reagan) kann in den USA um öffentliche Förderungen angesucht werden, um Enthaltsamkeitsprogramme, etwa an Schulen, umzusetzen. Im sogenannten Welfare Reform Act von 1996 wurden acht Kriterien festgelegt, die Programme erfüllen müssen, um als förderungswürdig zu gelten. Vermittelt werden soll „that a mutually faithful monogamous relationship in the context of marriage is the expected standard of human sexual activity“ und weiters „that sexual activity outside of the context of marriage is likely to have harmful and psychological and physical effects“ (zitiert nach Human Rights Watch 2005: 21).

Die heterosexuelle Ehe zwischen Mann und Frau wird hier zum einzig legitimen Ort für Sexualität erklärt, LGBT stellen in diesem Ansatz entweder eine völlige Leerstelle dar oder werden allenfalls – als Andeutung einer „gefährlichen Abweichung“ – als Risikogruppen einbezogen.

Besonders problematisch ist, dass für die Umsetzung von Enthaltsamkeitsprogrammen offen homophob auftretende Akteur_innen Fördergelder über PEPFAR erhalten haben, wie Organisationen wie Human Rights Watch, die International Gay and Lesbian Human Rights Commission oder das in den USA ansässige Center For Health and Gender Equity (CHANGE) aufdeckten. Ein Beispiel ist die Organisation United Families International, die in neun afrikanischen Ländern Enthaltsamkeitsprogramme umsetzt und darin verbreitet, Homosexualität sei „a developmental disorder that can often be prevented or successfully treated“ (International Gay and Lesbian Human Rights Commission 2007:75).

Heftige internationale Kritik löste vor allem die finanzielle Unterstützung von Pastor Martin Ssempa in Uganda aus, der bis einschließlich 2004 über PEPFAR Förderungen für Abstinence-Only-Programme erhalten hatte. Ssempa erlangte zweifelhafte Bekanntheit als einer der prominentesten Befürworter_innen der Anti Homosexuality Bill, einem Gesetzesentwurf, der erstmals 2009 als Verschärfung des bereits bestehenden Verbots von Homosexualität in Uganda im Parlament eingebracht wurde und in seiner ersten Fassung sogar die Todesstrafe für HIV-infizierte schwule Männer vorsah. Die finanzielle Unterstützung Ssempas löste Diskussionen um die Rolle der US-Regierung und insbesondere des Einflusses US- Evangelikaler für die Zunahme homophober Gewalt in Uganda aus (siehe zum Beispiel: Sexual Minorities Uganda).

Einfluss der Religiösen Rechten

Die Anti-Abtreibungs- und Anti-„Prostitutions“-Grundsätze und der deutliche Schwerpunkt auf Enthaltsamkeitsprogramme in den Förderkriterien von PEPFAR machen deutlich, dass hier die in der Republikanischen Partei sehr einflussreiche Religiöse Rechte einige ihrer Kernthemen durchsetzen konnte. Eine zentrale Rolle für die Herausbildung der Religiösen Rechten spielte die Pro-Family oder Pro-Life-Bewegung, wie sie sich verstärkt als Widerstand gegen die Legalisierung von Abtreibungen im Jahr 1973 formierte. Als wichtigste formale Organisationen der Religiösen Rechten galt zunächst die 1979 von Pastor Jerry Falwell gegründete Moral Majority, heute etwa die Christian Coalition of America oder das Family Research Council. Gegründet wurden diese, um verschiedene christlich-fundamentalistische Organisationen zu einen und so auf die nationale Politik Einfluss nehmen zu können. Unter dem sie verbindenden zentralen Leitbild des „Schutzes der Familie“ bekämpfen diese Organisationen alles, was ihrer Ansicht nach traditionelle Familienwerte bedroht: Feminismus, Abtreibungen, Pornografie, Promiskuität, Prostitution und Homosexualität.

Insbesondere die Abstinence Only Klausel, für die das oben genannte Family Research Council besonders mobilisierte, kann als Zugeständnis von George W. Bush an die Religiöse Rechte gewertet werden, um sich innenpolitisch zu stärken.

Katharina Hofer, die sich in ihrem Buch „Implications of a Global Religious Movement for Local Political Spheres; evangelicalism in Kenya and Uganda“ ausführlich mit Bündnissen zwischen evangelikalen Gruppen in den USA und in Uganda, sowie mit Verbindungen zwischen der Religiösen Rechten in den USA und der Regierung von George W. Bush auseinandersetzt, beschreibt, wie George W. Bush während seiner Amtszeit nach und nach Vertreter_innen der Pro-Life-Bewegung in Ämtern der reproduktiven Gesundheit einsetzte, die so verstärkt Zugang zur internationalen Politikebene erhielten und einen zunehmenden US-Unilateralismus in der internationalen HIV/AIDS-Arbeit und ein Ausscheren aus multilateralen Bündnissen vorantrieben. Diese Entwicklung wurde von Seiten der USA damit gerechtfertigt, dass die Politik der UNO, vor allem in den Bereichen Bevölkerungspolitik und reproduktive Gesundheit, gegen die moralischen Grundsätze der USA verstoße und Abtreibungen und Promiskuität fördere.

Aktuelle Entwicklungen

Die AIDS-Politik der Regierung Bush wurde nach dem Regierungswechsel teilweise revidiert und der Kritik an PEPFAR damit in wesentlichen Punkten Rechnung getragen. Die Regierung Barack Obamas setzte die Mexico City Policy bereits kurz nach Amtsantritt außer Kraft. Ebenfalls abgeschafft wurde die Klausel, wonach ein Drittel der Fördergelder an Abstinence-Only-Programme vergeben werden musste. Wie das Center For Health And Gender Equity (CHANGE) auf ihrer Plattform PEPFAR Watch darstellt, ist der Schwerpunkt auf Enthaltsamkeit jedoch nicht verschwunden. Demnach muss gegenüber dem Kongress eine Erklärung abgegeben werden, wenn in Ländern mit „generalisierten Epidemien“, das bedeutet, wenn mehr als ein Prozent der Bevölkerung infiziert sind, weniger als die Hälfte der Gelder im Bereich der Prävention für Enthaltsamkeitsprogramme aufgewendet werden.

Die Anti Prostitution Pledge wird trotz anhaltender internationaler Kritik immer noch verlangt. Auf der Internationalen AIDS Konferenz 2010 in Wien stürmten Sexarbeiter_innen eine Pressekonferenz des Globalen AIDS Koordinators der USA, Eric Goosby, um gegen diese Politik zu protestieren. Neuerliche Proteste gab es zuletzt anlässlich der diesjährigen AIDS-Konferenz in Washington – in Washington selbst und auf einer Gegenkonferenz, die im indischen Kolkata abgehalten wurde. Hintergrund war, dass hunderte Sexarbeiter_innen von der Teilnahme an der Konferenz in Washington ausgeschlossen wurden, indem ihnen schlicht keine Visa für die Einreise in die USA ausgestellt worden waren.

Bernadette Schönangerer hat in Wien Internationale Entwicklung studiert.

Literatur

Human Rights Watch (2005): The Less They Know, the Better. Abstinence-Only HIV/AIDS Programs in Uganda.

Hofer, Katharina (2006): Implications of a Global Religious Movement for Local Political Spheres. evangelicalism in Kenya and Uganda. Baden-Baden.

International Gay and Lesbian Human Rights Commission (2007): Off the Map. How HIV/AIDS Programming is failing same-sex practicing people in Africa.

PEPFAR Watch – The Global AIDS Relief Monitor

Ähnliche Artikel

Eine Karte als post/koloniales Archiv
Anmerkungen zur musealen Repräsentation der Migration
Die Recherchen begannen dort, wo sie ihren Ausgang nehmen sollten – bei Google.