Nachtisch statt Hauptspeise. Gedanken über Interkulturalität angesichts des geplanten EU-Jahres 2008

Multikulturalität hat weder als Begriff oder Konzept noch als politisches Selbstverständnis, in Österreich je die Chance bekommen, eine Gegenwart zu haben.

Ende der 1980er Jahre wurde ich vom ORF zu einer Club 2-Diskussion über das Thema „Multikulturalismus“ eingeladen. Unter den TeilnehmerInnen befand sich auch der damalige Wiener Bürgermeister, sodass das Gespräch thematisch und gruppendynamisch völlig anders verlief, als ich erwartet hatte. Erstens ging die Sendung unter dem Motto „Die Russen stehen vor den Toren Wiens“ über die Bühne. Zweitens redete der Bürgermeister alle anderen an die Wand. Drittens wurde ich von dem gar nicht so moderaten Moderator zur Ordnung gerufen, als ich versuchte, den Begriff „Multikulturalität“ in den Mund zu nehmen. „Unsere Zuschauer verstehen so ein Wort nicht!“, rügte er mich und ließ den Bürgermeister weiter gewähren, der gemächlich von seinem toleranten Naheverhältnis gegenüber den „Gastarbeitern“ erzählte.

Manchen Dingen ist es beschieden, dass ihr Ende vor ihrem Anfang steht. So erlebte ich auch die unglückliche Karriere von Multikulturalität in Österreich – am Fallbeispiel der ORF-Sendung. Mit dem Schau-dir-doch-die-Namen-im-Wiener-Telefonbuch-an-Argument wurde etwas, was anderswo eine ernstzunehmende Politik ist, in eine eigens dafür zusammengezimmerte Vergangenheit verbannt, unter dem Witznamen „Multikulti“ zur Lachnummer verewigt und als ungewisse Zukunft gleich im Voraus entsorgt. Jedenfalls hat Multikulturalität, weder als Begriff oder Konzept noch als politisches Selbstverständnis, in Österreich je die Chance bekommen, eine Gegenwart zu haben.

Nun stehen wir da und applaudieren einem anderen Fremdwort, das zwar für „unsere Zuschauer“ genauso wenig verständlich ist, sich jedoch auch hier größter Beliebtheit erfreut: Interkulturalität.

Zauberwort Interkulturalität

Seit gut einem Jahrzehnt schon bevölkern Neologismen, die allesamt mit dem Adjektiv interkulturell versehen sind, die Wörterbücher. Von interkulturellem Management über interkulturelles Lernen bis hin zu interkultureller Eheberatung dringt Interkulturalität – zumindest das Vokabel – in die kleinste Zelle unseres gesellschaftlichen Lebens ein. Selbst jene, die einst das multikulturelle Konzept als Gutmenschgefasel missbilligten, bekommen glänzende Augen, wenn sie das Wort „interkulturell“ hören. Sehr interessant ist es zu beobachten, wie ein Wort dermaßen selbstverständlich und als Universalbüchsenöffner zugleich daher kommen kann.

Es handelt sich dabei um ein Kompositum, das tatsächlich einleuchtet: Signalisierte die Vorsilbe Multi- ein beliebiges Nebeneinander, hören wir in Inter- schon ein verbindliches Miteinander. Darum kann Interkulturalität in unserer krisengeschüttelten Zeit des feindlichen Nebeneinanders auf nachvollziehbare Sympathie stoßen und zur „Querschnittsmaterie“ dieser Tage werden. In diesem Geiste haben das Europäische Parlament und der Rat am 18. Dezember 2006 entschieden, das Jahr 2008 zum „Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs“ zu erklären. Ein Schritt, der die Popularität von Interkulturalität um ein Vielfaches erhöhen wird. Sogar in Österreich.

Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Ich halte interkulturelle Ansätze sowohl in akademischen und pädagogischen Zusammenhängen wie auch in politisch-praktischen Belangen für außerordentlich wichtig und sinnvoll. Auch das EU-Jahr des interkulturellen Dialogs könnte das Selbstverständnis der EU-Bürgerinnen und -Bürger in Sachen Zugehörigkeit auf eine gegen den Ausschluss der „Drittstaatsangehörigen“ gerichtete Weise beeinflussen. Zudem könnten die Anliegen von Minderheiten innerhalb der EU einen fokussierten Ausdruck und mehr Gehör finden. Alles im Konjunktiv!

Mich sorgen zwei miteinander verknüpfte Probleme: Erstens stellt der Konzeptverschleiß, wie wir ihn hierzulande im Zusammenhang mit Multikulturalismus erlebt haben, ein Phänomen dar, das von einem instabilen, ja labilen Zustand einer politischen und politiktheoretischen Kultur zeugt. Just in Österreich das Interkulturalitätskonzept als Lösung für jene Probleme anzupreisen, die das Multikulturalitätskonzept vermeintlich nicht lösen konnte – das kommt in meinen Augen einem Abendessen gleich, vor dem die GastgeberInnen beschließen: „Die Hauptspeise wird den Gästen nicht schmecken, servieren wir also gleich den Nachtisch!“ Zweitens kann, eben auch darum, ein ähnlich schlimmes Schicksal vor allem im und nach dem geplanten EU-Jahr 2008 auch der Interkulturalität blühen: das Dasein einer Leerformel zu fristen.

Ansätze der Interkulturalität

Wenn wir das Konzept der Interkulturalität von seiner unglücklichen Zauberwort-Popularität befreien und als eine sinnvolle Perspektive in unsere theoretischen und praktisch-politischen Erwägungen einbeziehen wollen, drängen sich zwei Fragen auf:

1. Was bedeutet Interkulturalität, und was für einen Zweck soll sie erfüllen?
2. Was bedeutet ein interkultureller Dialog? Wer soll ihn führen – in Vertretung von wem oder was – und worüber soll da gesprochen werden?

Die erste Frage zielt nicht nur auf eine willkürliche Definition ab, sondern betrifft die Stoßrichtung eines jeden interkulturellen Vorhabens. Denn letztendlich waren auch die Missionare und Kolonialherren bisweilen mit einem „interkulturellen Wissensarsenal“ ausgestattet, um besser herrschen zu können.
Hierzu können drei wesentliche Ansätze aufgezählt werden:
Der beschreibende Ansatz begreift Interkulturalität als eine gegebene Realität, die bloß bewusst gemacht und weiter forciert werden soll. Hier ist allerdings zu ergänzen, dass ein solches Verständnis über den Ist-Zustand hinaus, auch für die Geschichte der „Kulturen“ gelten müsste. Denn das Kultur-Bewusstsein war und ist bereits eine Form von Interkulturalität. Der verpflichtende Ansatz geht davon aus, dass Interkulturalität etwas normativ Gutes darstelle und daher notwendig sei. Diese Soll-Zukunft birgt indes die größte Gefahr, zu einer Leerformel zu werden, wenn die exakten (auch die regulativen) Ziele und die realistische Einschätzung ihrer Erreichbarkeit nicht argumentativ angeführt werden. Der perspektivische Ansatz hingegen scheint den größten Spielraum von diesen drei Alternativen zu besitzen, zumal er von der Möglichkeit der Interkulturalität spricht. Ein solcher Ansatz fasst Kultur als Parameter bzw. Faktor einer gesellschaftlichen Formation auf – somit den Sphären Ökonomie, Soziales etc. ebenso ähnlich wie den „Differenzachsen“ Gender oder Schichtzugehörigkeit.

Fehler im Umgang mit Differenzen

Wegen gebotener Kürze stark verkürzend möchte ich hier für ein perspektivisches Verständnis der Interkulturalität plädieren. Kultur ist eine von vielen Differenzen, und Interkulturalität ist eine von vielen Facetten des „Differenzdenkens“ – um den von Heinz Kimmerle konzeptuell geprägten Begriff „Philosophien der Differenz“ (zu denen er auch die interkulturelle Philosophie zählt) etwas zu modifizieren.

Wenn aber von Differenzen die Rede ist, müssen sogleich auch drei wesentliche Fehler aufgezählt werden, die im Umgang mit Differenzen häufig begangen werden:
Differenzen verabsolutieren: Dieser „Fehler“ ist für die als „Identitätspolitik“ titulierten emanzipativen Politiken ebenso programmatisch wie für rechte Kulturalismen, die von „Recht auf Differenz“ sprechen. Hinter jeder Festschreibung von Differenz steht eine Reduktion von prinzipiell unendlich vielen Differenzen zwischen Individuen auf einige wenige, zumeist eine einzige Differenz. Der Mensch lebt aber nicht von Kultur allein. Differenzen ignorieren: „Dekonstruktion“ bedeutet nicht „Entlarvung“, und dass etwas „konstruiert“ sei, bedeutet nicht, es sei unbedingt abzuschaffen oder man müsse so tun, als würde oder dürfe es nicht existieren. Eine kritische Haltung gegenüber der Differenz-/Identitätspolitik (Anerkennungspolitik) inkludiert nicht die Aberkennung von Differenzen. Kulturelle Differenzen verdienen jene Aufmerksamkeit, die argumentativ zu ergründen ist, und jene Anerkennung, die jeder Emanzipationspolitik abzuverlangen ist. Differenzen miteinander verwechseln: Manche Differenzen üben mehr Faszination aus als andere. Kultur gehört (wie wohl auch Gender und Klasse) unbedingt dazu. Deswegen greift in Europa in den letzten Dekaden die Gewohnheit um sich, Differenzen jedweder Art als kulturelle zu entziffern. Schichtbedingtes, soziales Verhalten von „Gastarbeitern“ wird deren „fremden Kultur“ zugeschlagen, so wie das politische Mehrheit-Minderheit-Verhältnis als ein Kulturproblem festgesetzt wird. Darin erblicke ich nicht einen bloßen Reduktionismus. Vielmehr spielt dabei der Umstand eine Rolle, dass Differenzen aufgrund der Oberflächlichkeit der Betrachtung miteinander verwechselt werden.

Hier kommen das geplante EU-Jahr und die oben gestellte Frage nach den Modalitäten eines interkulturellen Dialogs erneut ins Spiel.

Das prinzipielle Dialog-Prinzip

„Stell dir vor, es ist ein besonderes Jahr – und keine/r weiß davon!“
So sieht es im Moment mit dem besonderen EU-Jahr aus. Aber nicht mit dem für 2008 geplanten, sondern mit jenem, das bereits seit zwei Monaten amtlich im Gange ist: „Das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle“. Die schlechte nationale Umsetzung der edlen EU-Kampagnen ist aber nur eines (noch dazu: das bekannteste) der Probleme, die auf die Kampagne des nächsten Jahres zukommen werden. Wichtiger scheinen mir die plötzliche Wende vom Sozialen zum Kulturellen sowie der leichtfertige Umgang mit dem Begriff „interkultureller Dialog“ zu sein.

Beim erst genannten Fall liegt offenbar eine Verwechslung vor. Natürlich haben Gleichbehandlung und Antidiskriminierung eine bedeutsame kulturelle Komponente. Aber bei Diskriminierung und Ungleichheit geht es nicht vornehmlich um kulturelle Differenzen, die durch gegenseitigen Respekt zu überwinden wären, sondern um gelebte und herbeigeführte Machtverhältnisse – und diese sind vor allem politischer Natur. Die Fortsetzung der wichtigen EU-Antidiskriminierungspolitik mit kulturellen Mitteln kann zu einer „Verwässerung“ dieser Politik führen.

Beim zweiten Fall könnte der Interkulturalitätsansatz selbst das Opfer darstellen. Dem „interkulturellen Dialog“ wird derzeit in den offiziellen EU-Texten (etwa in Entscheidung Nr. 1983/2006/EG oder COM (2005) 467 final) die Funktion eines Breitbandantibiotikums zugeschrieben. Es hat den Anschein, als würde das dialogische Prinzip eher „aus Prinzip“ vorgeschlagen, da es „prinzipiell“ gut ist, Dialoge zu führen – wenn sie interkulturell sind, umso besser! Denn unmöglich kann Interkulturalität ein solches Allheilmittel sein, das nahezu alle Probleme innerhalb der EU (vom Rassismus bis hin zum Wachstum) löst.

Ich rieche schon den Nachtisch. Hoffentlich besinnen sich die kritischen Geister in der EU darauf, dass Interkulturalität vor allem mit Selbstkritik beginnt.

Hakan Gürses ist Philosoph und Journalist, lebt in Wien (www.hakanguerses.at).

 

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