VorRisse

Bald zwanzig Jahre Wende. Ein Lehrstück darüber, wie das Versprechen der Demokratisierung in den Abbau sozialer Errungenschaften und die Schaffung wirtschaftlicher Abhängigkeiten umgewandelt werden kann? Als Transition beschrieben, als gewaltlose Umgestaltung des Systems, lassen diese Begriffe Realitäten nur in dem vorgeformten Korsett von spezifischen Selektionen und Konstruktionen zum Ausdruck kommen. Täglich wird in mehrdeutiger Sprache der Bedürftigkeitsdiskurs neu hergestellt und zugleich Gewinnmaximierung im Framing einer Entwicklungshilfe für Osteuropa verhandelt.

Bald zwanzig Jahre Wende. Ein Lehrstück darüber, wie das Versprechen der Demokratisierung in den Abbau sozialer Errungenschaften und die Schaffung wirtschaftlicher Abhängigkeiten umgewandelt werden kann? Als Transition beschrieben, als gewaltlose Umgestaltung des Systems, lassen diese Begriffe Realitäten nur in dem vorgeformten Korsett von spezifischen Selektionen und Konstruktionen zum Ausdruck kommen. Täglich wird in mehrdeutiger Sprache der Bedürftigkeitsdiskurs neu hergestellt und zugleich Gewinnmaximierung im Framing einer Entwicklungshilfe für Osteuropa verhandelt. Ob die Höhe der Wachstumsraten in den für EU-Unternehmen so wichtigen Betrieben (Süd-)Osteuropas, oder die Sorge, der Anstieg des Lohnniveaus ebendort berge „gewisse Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit“ – die Ausbeutung und Vereinnahmung des Gebiets steht kaum verhüllt im Zentrum medialer Diskurse. Die Frage, was diese Transformationen für die Betroffenen bedeuten, wird hingegen selten gestellt. Mit solchen Fragen beschäftigt sich die vorliegende Kulturrisse-Ausgabe.

Boris Buden macht dabei gegenüber der oben skizzierten „Meistererzählung der Transition“ ein Deutungsmuster stark, das die Transformationen und ihre Verwerfungen als Symptome eines grundlegenderen Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse im Zuge der neoliberalen Globalisierung begreift. Dem vergeschlechtlichten und ethnisierten Subtext besagter Meistererzählung widmet sich im Anschluss daran Radostina Patulova, verschüttet das hier entwickelte Phantasma „des Ostens als eines Frauenkörpers“ ihr zufolge doch jegliche Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation. Zu letzterem freilich haben, wie Ljubomir Bratić in seinem Artikel zeigt, nicht bloß die „GewinnerInnen“ des Kalten Krieges beigetragen, sondern auch manche der scheinbar „Unterlegenen“, führte das Ende dieses Krieges ihm zufolge doch keineswegs zum Abdanken der realsozialistischen Nomenklatura, sondern zu ihrem Wiedererstehen als nunmehr verwaltungstechnisch wirkende Elite.

In den drei abschließenden Beiträgen zum Heftschwerpunkt werden die hier auf abstrakt-theoretischer Ebene analysierten Transformationsprozesse schließlich in drei konkreten Politikbereichen untersucht. Während Therese Kaufmann und Beat Weber dabei auf das Kunstfeld und die Rolle der hier agierenden Stiftungen fokussieren, nimmt Nedim Sejdinović in seinem Artikel den (Print-)Mediensektor Südosteuropas unter die Lupe und zeigt am Beispiel der deutschen WAZ dessen Transformation unter dem Einfluss westeuropäischer Medienkonzerne. Den ideologischen Charakter der Sonntagsreden über die „Wissensgesellschaft“ angesichts der sich „im Osten Europas“ abzeichnenden Realitäten im Bildungs- und Wissenschaftsbereich zeigt schließlich Dimitar Denkov am Beispiel des Umbaus des – entlang unterschiedlicher Grenzziehungen segregierten – bulgarischen Bildungssystems auf.

Dass wir gegenwärtig innerhalb der EU an einem neuralgischen Punkt der Territorialitäts- und Abgrenzungsvorstellungen angelangt sind, machte zuletzt auch die politische Reaktion auf ein Gewaltverbrechen in Italien deutlich. Die italienische Regierung reagierte nämlich mit einem Dekret, welches die Ausweisung von BürgerInnen eines Mitgliedsstaates in einen anderen verfügte. Der Außenminister des betroffenen Landes, nämlich Rumäniens, sprang der italienischen Regierung mit dem Vorschlag zur Seite, in der ägyptischen Wüste ein Stück Land zu erwerben, um dorthin alle jene, „die unserem Land Schande bereiten“, abzuschieben – stets penibel mit dem Zusatz versehen, dass es sich beim Täter um einen Rom handle. Aus dieser Geschichte wird – neben ihrem minderheitenverachtenden Subtext – ersichtlich, dass der rumänische Außenminister sich offensichtlich lange genug in EU-Kreisen bewegt hat, um zu begreifen, dass das hier verfolgte Prinzip der „Exterritorialisierung von Flüchtlingen“ auch auf die eigenen StaatsbürgerInnen ange- wendet werden kann. Der aktuelle Kulturrisse-Schwerpunkt ist angesichts solcher Vorkommnisse wohl nicht als eine endgültige Angelegenheit zu betrachten. 

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