Kein "Zufall" der Geschichte

<p>Auch heute gilt für viele Darstellungen vor allem außerhalb Nigerias, dass die Geschichte Nollywoods erst mit dem Jahr 1992 beginnt. In diesem Jahr erschien Kenneth Nnebues’ epochaler Film <i>Living</i> in Bondage. So wird der falsche Eindruck vermittelt, die vorangegangene Periode sei von geringer oder überhaupt keiner Bedeutung in der Konstituierung der weltweit bekannten nigerianischen Videofilmindustrie gewesen.<br /> <br /> Nigeria machte als ehemalige

Auch heute gilt für viele Darstellungen vor allem außerhalb Nigerias, dass die Geschichte Nollywoods erst mit dem Jahr 1992 beginnt. In diesem Jahr erschien Kenneth Nnebues’ epochaler Film Living in Bondage. So wird der falsche Eindruck vermittelt, die vorangegangene Periode sei von geringer oder überhaupt keiner Bedeutung in der Konstituierung der weltweit bekannten nigerianischen Videofilmindustrie gewesen.

Nigeria machte als ehemalige englische Kolonie andere Erfahrungen mit dem Medium Film als die vormals französisch kolonisierten Länder, in denen die französische Regierung auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterhin versuchte, die Produktionsstrukturen des Filmsektors zu kontrollieren. Auch beeinflusste das Medium Fernsehen nirgendwo im süd-saharischen Afrika den Aufbau einer Filmindustrie so stark wie in Nigeria. Noch wichtiger für die Filmgeschichte des Landes bis zur Entstehung der Videofilmindustrie waren jedoch die 1972 vom Militärregime durchgeführte Nationalisierung des Mediensektors und der kurz darauf erfolgte Einstieg des Yoruba Wander-Theaters in die Filmbranche. Vom Indigenization Act des Militärregimes von General Yacubu Gowon, der 1966 durch einen Staatsstreich an die Macht gelangt war, waren fast alle Wirtschaftssektoren des Landes betroffen. In der Filmbranche kam es zunächst zu einer Neustrukturierung des Kinobetriebs. Mehr als 250 Kinosäle wechselten ihren Besitzer und wurden von nun an von Nigerianern geführt. Der nächste Schritt auf dem Weg zur Nationalisierung der Filmindustrie erfolgte 1979 mit der Gründung der Nigerian Film Corporation (NFC), die zusammen mit der National Film Distribution Company (NFDC) in Jos, Plateau State im Zentrum Nigerias angesiedelt wurde.

Der Staat war in der Filmindustrie zudem mit der aus der Kolonialzeit geerbten Film Unit, die aus der früheren British Colonial Film Unit hervorgegangen war, präsent. Ganz im Stil der Kolonialbehörden wurden Dokumentarfilme produziert, die sich Themen wie Landwirtschaft, Hygiene und Haushaltsführung widmeten, das nigerianische Publikum aber kaum erreichten, weil dieses nur einen eingeschränkten Zugang zum staatlichen Fernsehen oder zu den Kinos hatte. Die nigerianische Regierung beteiligte sich auch direkt an der Finanzierung von Spielfilmen. So wurde etwa Shaihu Umar (1976) von Adamu Halilu ausschließlich mit staatlichen Mitteln finanziert. Diese Zeit brachte den produktivsten Regisseur des sub-saharischen Afrikas hervor: Ola Balogun. Der frankophile Regisseur produzierte zwischen 1971 und 1984 mindestens einen Film pro Jahr, ab 1973 ausnahmslos in Spielfilmlänge (Boughedir 1987: 167). Diese Produktivität ist für manchen Filmhistoriker ein Ausdruck des Erfolges des Indigenization Act. Zunächst auf Nigeria beschränkt erreichten die Filme von Ola Balogun, wie etwa Black Goddess (1978), der Geschichte einer mythisch-poetischen Begegnung zwischen einem jungen Mann und der Göttin Mamy Wata, Cry Freedom (1981), einem Film über gegen die englische Kolonialherrschaft gerichteten Befreiungsbewegungen in Afrika, oder Money Power (1982) später ein internationales Publikum. Diese goldene Ära des nigerianischen Kinos war auch der Mitwirkung einiger wichtiger Protagonisten des Yoruba-Theaters im Filmgeschäft zu verdanken.

Eine neue Ära: Das Yoruba-Theater in der Filmproduktion
Künstler aus der Tradition des Yoruba-Wandertheaters wurden ab 1976 wichtiger Teil der nigerianischen Filmproduktion. Ihre Hinwendung zum Spielfilm – die von einigen Experten auch als ein Ergebnis des Indigenization Act gedeutet wird (vgl. Diawara 1988: 45) – gilt gemeinhin als Wendepunkt in der jungen Filmgeschichte des afrikanischen Landes. Um das Jahr 1980 existierten etwa einhundert solcher mobiler Theatergruppen in ganz Nigeria, die ohne feste Spielorte auskamen und daher als Wandertheater ständig auf Reisen waren (Haynes 1997: 4). Nach den kommerziellen Fehlschlägen der ersten, meist englischsprachigen Filme aus Nigeria haben Schauspieler des Yoruba-Theaters dem nigerianischen Kino den entscheidenden Schub gegeben, ihm eine eigenständige Perspektive verliehen.

Ajani Ogun (1976) von Ola Balogun gilt als erster Film dieser neuen Ära, da er das Yoruba-Wandertheater in die Kinosäle brachte. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der gegen einen korrupten reichen Politiker und für seine Verlobte und sein Land kämpft. Der Regisseur profitierte dabei von seiner Zusammenarbeit mit Duro Ladipo, der bereits viele Erfahrungen mit Verfilmungen eigener Theaterstücke ür das nigerianische Fernsehen gesammelt hatte (vgl. Diawara 1988: 45).

Der Übergang zur Videofilmindustrie: Das Fernsehen als Impulsgeber
In der Geschichtsschreibung des Entwicklungsprozesses der nigerianischen Videofilmindustrie wird vor allem von nicht-nigerianischen Autoren die wichtige Phase zwischen 1984 bis 1991 entweder gänzlich ausgeblendet oder nur in aller Kürze abgehandelt.
Ebenso ranken sich immer mehr Geschichten und Mythen um den Übergang von der Zelluloid-Ära zur heutigen Videofilmindustrie. Zum Beispiel ist die gängige Behauptung, die Videofilmindustrie Nigerias werde von ehemaligen Verkäufern von Elektronikwaren betrieben und ihre Techniker seien frühere Hobby-Fotografen oder Videoasten, zurück zu weisen (Ejike 2005). Ebenso ist die weltweit verbreitete Annahme, als Produzent von Living in Bondage hätte Kenneth Nnebue Nollywood erfunden, eine Legende. Vielmehr beruht die Videofilmindustrie auf einer Videokultur, die sich im Laufe der Jahre sowohl im nigerianischen Fernsehen als auch im Theater entfaltet hat. Der Aufstieg der nigerianischen Videofilmindustrie ist vor allem als das Werk von Beschäftigten des staatlichen Fernsehens zu betrachten, die über ihre dortigen Arbeits- und Produktionsbedingungen zutiefst enttäuscht waren.

Der unmittelbare Ursprung der Videofilmindustrie liegt im Fernsehen (vgl. Barrot 2005: 83ff.). Ihre ersten und wichtigsten Akteure waren bereits Anfang der 1980er Jahre vor allem als Schauspieler, Produzenten und Regisseure bei der NTA (National Television Autority) beschäftigt. Dort hatten sie in erster Linie an zahlreichen Serien – meist Soap Operas – mitgewirkt, bevor sie ausstiegen und anfingen, eigene Videofilme zu produzieren. Mirror in the Sun, Behind the Clouds oder Victims hießen einige dieser Soap Operas, die als Romanze-Dramen charakterisiert wurden. Für den Übergang von diesen Fernsehserien zur Videofilmindustrie steht beispielhaft die Arbeit des Regisseurs Zeb Ejiro. Für die NTA produzierte er von 1988 bis 1993 Ripples, eine der beliebtesten Soap Operas, bevor er sich endgültig der Videofilmindustrie zuwandte. Bevor die Soap Operas allerdings im staatlichen Fernsehen gezeigt wurden, hatte der regionale Fernsehsender WNTV (Western National Television) aus Ibadan bereits Ende der 1970er Jahre damit begonnen, Bühnenauftritte von Yoruba-Theater-Truppen aufzunehmen und auf seinen Kanälen zu übertragen. Bei WNTV startete auch ein gewisser Tunde Kelani (Agogo Eewo, Thunderbolt, Abeni, Arugba) seine Karriere.

Die unhaltbaren Arbeitsbedingungen bei der NTA, wegen der viele Mitarbeiter den Sender verließen, waren ein weiterer wichtiger Faktor. Die NTA bezahlte ihre Mitarbeiter in der Unterhaltungssparte miserabel und manchmal auch gar nicht, obwohl sie Werbeeinnahmen in Millionenhöhen erzielte. Die Tatsache, dass viele Produzenten die NTA wegen der schlechten Behandlung durch das Management „freiwillig“ verließen, ist unbestritten. Viele andere aber wurden im Zuge einer ökonomischen Sanierung des Fernsehens vor die Tür gesetzt, die als Teil der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verordneten Strukturanpassungsprogramme erfolgte1. Viele der ehemaligen Fernsehmitarbeiter wurden, wie Ejike schildert, als unabhängige Produzenten zu zentralen Akteuren, welche die einheimische Videofilmindustrie vorantrieben. Insofern wirkte die NTA auf höchst zwiespältige Weise als Katalysator dieses Kultursektors, indem sie einerseits Produzenten, Schauspieler und auch Techniker freisetzte und andererseits für das technische und künstlerische Know-how sorgte, das für den Aufbau einer unabhängigen Videofilmindustrie notwendig war. Allerdings wäre es verkürzt, die Herausbildung und den Aufstieg der nigerianischen Videofilmindustrie lediglich aus dem staatlichen TV-System heraus erklären zu wollen. Nollywood ist mehr als eine Fortsetzung der für das Fernsehen produzierten Soaps.

Der Streit darüber, wie viele Videoproduktionen Living in Bondage (1992) vorausgegangen sind, wird wohl andauern. Fest steht, dass die Entstehung der nigerianischen Videofilmindustrie mehr als ein „reiner Zufall der Geschichte“ ist. Sie als „Phänomen“ zu bezeichnen, heißt nicht, sie gleichsam ahistorisch zu erklären. Es gab Anzeichen, welche die spätere „Explosion“ vorausahnen ließen. Sie sind aber erst später, nachdem sich die Industrie herausgebildet hatte, im Rückblick als solche interpretiert worden. Viele Faktoren haben zur Etablierung und zum Erfolg der nigerianischen Videofilmindustrie beigetragen. Die ausländischen Filme und Produktionsfirmen konnten die Lücke, die in den 1980er Jahren durch das Scheitern der nigerianischen Zelluloid-Filmindustrie entstanden war, nicht zu ihrem Vorteil nutzen. Die Nigerianer trauten sich immer weniger nachts in die Kinos, weil die Straßen der großen Städte, insbesondere Lagos, immer unsicherer wurden. In Folge dessen mussten die meisten Filmtheater mangels ausreichender Zuschauerzahlen schließen. Verunsichert durch die drastischen politischen und ökonomischen Maßnahmen des Militärregimes fühlten sich die Menschen zu Hause am wohlsten, wo sie ihre Freizeit mit Fernsehen und nigerianischen Soap Operas verbrachten, die sich durch spezifisch lokale theatralische Komponenten auszeichneten. Mit der Wirtschaftskrise verlagerte sich also der mediale Konsum weg von der städtischen Öffentlichkeit mit ihren Kinosälen hin zur geschützten Privatsphäre der Haushalte und des Fernsehens. Die ökonomische Rezession hatte jedoch auch massive Auswirkungen auf die Produktionsbedingungen von Filmen. Zelluloid-Produktionen wurden nahezu unmöglich, während das Fernsehen unter den Strukturanpassungsprogrammen litt und zahlreiche Produzenten entlassen musste. Privatisierungsdruck und die mit der Auflösung staatlicher Strukturen verbundene Streichung öffentlicher Fördermittel haben die nigerianischen Filmemacher jedoch nicht gelähmt. Sie haben aus der Krise gelernt und damit begonnen, mit viel Einfallsreichtum und Kreativität unterschiedlichste Finanzierungsmodelle für die neu entstehende Videofilmbranche zu entwickeln. Fast alle Videoproduktionen werden heute ohne staatliche Unterstützung realisiert.

1 Für verschuldete Staaten schrieb das Structural Adjustment Program des IWF häufig die Sanierung des öffentlichen Haushalts vor, wollten sie weiterhin Kredite des IWF und der Weltbank in Anspruch nehmen. Zu den Sanierungsmaßnahmen gehörten u. a. massive Entlassungen in staatlichen Unternehmen.

Literatur
Barrot, Pierre (2005): Nollywood. Le phénomène vidéo au Nigeria, Paris.

Boughedir, Ferid (1987): Le cinéma Africain de A à Z, Brüssel.

Diawara, Manthia (1988): „Film in Anglophone Africa: A Brief Survey“. In: Cham, Mbye B./Andrade-Watkins, Claire (Hg.): Blackframes, critical perspectives on Black Independent Cinema, Cambridge, S. 37–49.

Ejike, Bob (2005): Nollywood And Electronics Traders. Unter: www.nollywood.net, 9.3.2005 (Zugriff: 7.10.2005).

Haynes, Jonathan (1997): „Nigerian Cinema: Structural Adjustments“. In: Okome, Onookome/Haynes, Jonathan (Hg.): Cinema and Social Change in West Africa. Revised impression, Jos, S. 1–25.

J. Enoka Ayemba lebt und arbeitet als Filmkurator, -kritiker und Referent in Berlin.

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