Alle guten Dinge sind drei, vier, viele? Polyamory als Lebens- und Liebeskonzept.

Schott kommt zum Schluss, dass in seinem Konzept einer offenen Beziehung Sex mit Dritten kein Fremdgehen ist, sondern vielmehr Resultat einer falschen Treue, die nicht mehr ist als „Ausdruck der moralischen Festschreibung von Monogamie“.

Vielleicht erinnert die_der ein_e oder die_der andere jene Szene aus Sébastien Lifshitz’ Wild Side (FR 2005), in dem das im Verlauf des Filmes zueinander findende queere Dreiergespann sich über den Umweg einer Geste ihres wechselseitigen Beziehungsstatus zueinander versichert: Als der russische Ex-Soldat Mikhail inmitten des für die Dauer der Pflege von Stéphanies todkranker Mutter gemeinsam geteilten Reihenhauses in der französischen Provinz durch das Zeigen auf ein Photo aus seiner Brieftasche das Vermissen seiner Familie artikuliert, macht das jüngste Mitglied der Gruppe mit einer Hand eine alle drei Anwesenden einkreisende Bewegung. Djamel beantwortet das schmerzhafte Fehlen mit einer inkludierenden und zugleich exklusiven Geste. Auf Mikhails in gebrochenem Englisch ausgesprochene Feststellung sagt er in einem Französisch, das erst noch übersetzt werden muss: „Aber wir sind doch da!“ Daraufhin folgen Umarmungen und kleine Zärtlichkeiten unter den zur neuen Familie vergorenen Liebhaber_innen und Freund_innen, deren polyamouröse Beziehungen mit- und untereinander auf dem Prinzip der Wahlverwandtschaft beruhen.

Vielleicht mag es erstaunen, dass es in Lifshitz’ Film nicht die Zweier-Dyade ist, die die Exklusivität einer Beziehungsform definiert. Stattdessen sind es drei Personen, die miteinander soziale, sexuelle und familienähnliche Beziehungen unterhalten. Obgleich die gewählte Form des Zusammenlebens nicht frei ist von durch Eifersucht angestachelten Konfliktpotenzialen, besteht die queere, intergenerationell transgressive und über die Eigenheiten von Landessprachen hinaus miteinander kommunizierende Gemeinschaft als vom Rest der Welt durch starken internen Zusammenhalt abgehobene und eigenständige Form des Lebens und Liebens: Die Frau-zu-Mann-Trans*Person Stéphanie, die als Prostituierte in Paris arbeitet, der algerische Gelegenheitsstricher Djamel und der russische Tellerwäscher Mikhail leben – sofern die Schwerkraft der äußeren Verhältnisse es zulässt – miteinander in einer glücklichen Konstellation. Warum aber sind wir dennoch geneigt, eine derartige ménage à trois in regelmäßigen Abständen skeptisch zu beäugen? Und warum gelingt es den zwei durchaus ambitionierten Erscheinungen des letzten Bücherherbstes nicht ausreichend, die Vorurteile gegenüber Formen des polyamourösen Zusammenlebens zu entkräften?

Regeln für den Paarungspark

„Polyamory – Eine Erinnerung“ nennt sich das von Thomas Schroedter und Christina Vetter geschriebene und 2010 beim Stuttgarter Schmetterling Verlag herausgegebene Büchlein, das die Möglichkeit einer kollektiven Verteilung von Liebesglück ebenso verspricht wie das manifestartige Druckwerk von Oliver Schott mit dem Titel „Lob der offenen Beziehung. Über Liebe, Sex, Vernunft und Glück“, das im selben Jahr in der Reihe Sexual Politics im Berliner Verlag Bertz&Fischer erschien. Während sich das Autor_innen-Duo stark auf die Grundsätze der in den USA der ausgehenden 1960er Jahre im Hippie-Umfeld entstandenen Polyamory-Bewegung bezieht, schlägt Schott seine Thesen eher manifestartig an. Seine Ausführungen bedürfen anscheinend nur bedingt der Abfederung durch bestehende Literatur zu Leben und Erfahrung in Mehrfachbeziehungen. Stattdessen schwingt sich der Autor gleichsam zum Erfinder eines mehrmals im Verlauf des Buches als unkonventionell bezeichneten Beziehungsmodells auf. So beteuert dieser im Vorwort nicht ohne Koketterie, dass er mit seiner Verteidigung des Nicht-Monogamen „eine weiterhin als absonderlich, weltfremd, unpraktikabel und latent unmoralisch geltende Minderheitenposition“ (20) bekleide. So minoritär ist diese Position indes nicht. Um seinem Konzept den Anspruch des Subversiven zu verleihen, nimmt Schott kurzerhand all jene Formen aus der „offenen Beziehung“ aus, die dritte, vierte oder sogar fünfte Männer oder Frauen inkludieren, die zumeist in den Schattenzonen des offiziösen Ehebundes ohne Mitwissen aller Beteiligten koexistieren. Die Conclusio ist überwältigend: Schott kommt zum Schluss, dass in seinem Konzept einer offenen Beziehung Sex mit Dritten kein Fremdgehen ist, sondern vielmehr Resultat einer falschen Treue, die nicht mehr ist als „Ausdruck der moralischen Festschreibung von Monogamie“ (56). Dies setzt dennoch die Zweierbeziehung als Ausgangspunkt für die Beziehungsform voraus. Was, wenn nicht dies ist sie also dann, die „offene Beziehung“?

Bei Schott wird konsensual abgesprochener Sex mit Vielen in ein relativ unausgegorenes Modell von Freund_innenschaft integriert. Die möglichen affektiven Begleiterscheinungen werden kurzerhand mit dem Gefühl der Scham beim erstmaligen Betreten eines Nacktbadestrands verglichen, was nicht gerade für die Kompetenz des Autors im Hinblick auf Affektdiagnosen spricht (vgl. 45). Als Ursache für das Aufkommen von Eifersucht sei „nicht das sie auslösende Verhalten des geliebten Menschen“ (ebd.) anzusehen, sondern deren Existenz selbst. Unterstützt wird dieser Befund durch fadenscheinige Belege aus dem Tierreich: „Geschichten über die Evolution des Paarungsverhaltens“ zufolge gäbe es jenes Gefühl nämlich gar nicht, mit dem Menschen (!) in regelmäßigen Abständen auf „Verstöße gegen emotionale oder sexuelle Exklusivität“ (46) reagieren.

Polyamory – (K)eine Ent-Täuschung

In ähnlich undialektischer Verschränkung behandelt Schott auch das Verhältnis von gesellschaftlichen „Freiheiten“ im Neoliberalismus und den sich daraus ergebenden neuen Zwängen. Dass dieser in der Gegenwartsgesellschaft ausschließlich „nie dagewesene Freiheiten“ (14) wittert, macht den Autor nicht gerade zum Dialektiker. Wenn Schott „unsere heutige, relativ große Freiheit“ (15) auf die Errungenschaften der Aufklärung zurückführt, dann kann er nicht nur nicht erkennen, welche Irrationalitäten die institutionalisierte Ratio hervorgebracht hat – der Autor huldigt etwa einer Steuerbarkeit von Gefühlen durch eine Vernunft, deren Abtrennbarkeit vom Emotionalen stets vorausgesetzt wird. Zudem verkennt er die Zwangsläufigkeit, mit der ein die falsche Individualität beförderndes Freiheitsstreben zum Gesetz der Serie führen musste. Wenn Schott „entschieden die Partei der Freiheit“ (20) ergreifen will, stellt dieser sich ohne es selbst zu wissen in die Tradition jener Libertins, deren serialisierbare Heterosexismusphantasien im Gefängnis am besten gediehen. Während der vermeintliche „Befreiungsdrang“ Sades das Resultat jahrzehntelanger Einkerkerung war, ist der für 24 Stunden an sieben Tagen der Woche gültige SM-Vertrag die Kehrseite einer permanenten Selbsterfindung, durch die das vermeintlich flexible und vollkasko-individualisierte Subjekt der Gegenwart seine_ihre lebensweltlichen Kontingenzen im Privaten abfedert. Schrott indes erkennt diese Paradoxie nicht und kann deshalb behaupten, dass die Monogamie Schuld an der Misere des sexuellen Elends sei.

Um einiges reflektierter wirken indes Thomas Schroedter und Christina Vetters Ausführungen zu einer Beziehungsform, die diese bewusst nicht nur offen nennen. Zu Beginn ihres Buches definieren sie Liebe analog den Zickzackflügen einer Fliege im Zimmer als ein „Verwirrspiel“ (13), deren schräge Bahnen durch polyamouröse Formen der Beziehungs-Führung nicht etwa begradigt, sondern möglichst mimetisch nachgeahmt werden kann. Das verwirrte Flügelwesen namens Liebe kennt die unterschiedlichsten Liebesformen von eros, ludus, storge und manie über agape und pragma. Während letztere etwa eine aus pragmatischen Gründen eingegangene Beziehungsform zwecks Ressourcenmaximierung meint, bezeichnet storge Typologien der geschwisterlichen Liebe, ludus ihre spielerische Dimension, agape die wechselseitige Sorge um und füreinander, eros die sublimatorische Liebe zum Ideal und manie ihr eifersüchtiges und zwanghaftes Pendant. Im Sinne einer Liebe unter vielen setzt polyamory ein Nebeneinander dieser unterschiedlichen Formen voraus, die füreinander Korrektive darstellen können. So konstatieren die Autor_innen nicht nur das Verschwinden der eifersüchtigen mania infolge des Lebens in Mehrfachbeziehungen, sondern auch eine damit einhergehende „Rückzugsmöglichkeit gegenüber dem Leistungsdruck des herrschenden Alltags“ (160). So unterschiedlich wie die Liebesformen sind auch die sich daraus ergebenden Beziehungskonstellationen: Es gibt die nach Relevanzen vertikal ausdifferenzierten Primär-, Sekundär- und Tertiärbeziehungen ebenso wie horizontal organisierte Beziehungsformen, die im Zusammenschluss von Paaren aus drei oder mehreren Personen (Gruppen-Ehen) genauso wie in Triaden, Triangeln oder Polyfidelity-Lebensformen bestehen können.

Akkumulationsdynamiken und andere soziale Asymmetrien

Mit ihren historischen Ausführungen zur Genese von (queeren) Beziehungsformen ebenso wie zu lebbaren Modellen entheben Schroedter/Vetter die polyamouröse Lebensform den abstrakten Verhaftungen in einer reinen Theorie des Möglichen. Sie rekurrieren ebenso auf den reichen Erfahrungsschatz im lesBiSchwulen und trans*-Bereich, zu dem die im Rahmen von Commitment Ceremonies geschlossenen Freund_innenschaften unter zwei oder mehreren Freund_innen zählen und Sex zum Nebenprodukt des polyamourösen Verbunds werden kann. Dennoch ist die Position des_der hinzugekommenen Dritten, Vierten oder Fünften im Zusammenhang mit Primär- und Tertiärbeziehungen oftmals eine prekäre: Wenn Schott annimmt, dass monogam strukturierte Beziehungen „Konkurrenzdenken und Rangordnungskämpfen Vorschub leisten und so anstelle des Miteinanders das Gegeneinander“ (89) bestärkten, dann unterschätzt dieser, wie sehr gerade die_der konsensual integrierte Dritte zur Vergleichsgröße oder zum Störfaktor der zwei ebenso werden kann wie im Idealfall zur Synthese. Das Denken neuer Beziehungsformen von Gleichen unter Gleichen hat noch einen weiteren Haken, der stark mit den Asymmetrien zwischen den Geschlechtern im kapitalistischen System zusammenhängt: In einer Gesellschaft, innerhalb derer ein vom Geld nicht unabhängiges Differenzierungsmodell namens Beziehung existiert, akkumuliert stets der_diejenige, die_der durch die Anhäufung von materiellem und symbolischem Kapital sich selbst als begehrenswert markieren kann. Dieses Differenzierungssystem ist infolge des Fortbestehens von Einkommensungleichheiten zu nicht unwesentlichen Anteilen entlang des Geschlechterdualismus strukturiert. Zur Überwindung dieses fundamentalen Widerspruchs, der die Liebe von Gleichen unter Gleichen erst möglich machte, haben die Autor_innen bedauerlicherweise keine Antwort parat. Vielleicht ist das queere Beziehungsmodell von Stéphanie, Djamel und Mikhail aus Sébastien Lifshitz’ Film nur eine erste Antwort auf eine im kapitalistischen Lebensalltag noch nicht beantwortete Frage.

 

Literatur

Schott, Oliver (2010): Lob der offenen Beziehung. Über Liebe, Sex, Vernunft und Glück. Sexual Politics I, Berlin: Bertz&Fischer.

Schroedter, Thomas/Vetter, Christina (2010): Polyamory. Eine Erinnerung, Stuttgart: Schmetterling Verlag.

 

Barbara Eder

ist seit 2009 Referentin der AIDS-Hilfe Wien, Co-Herausgeberin von „Die Linke und der Sex. Klassische Texte zur wichtigsten Frage“, Wien: promedia (gemeinsam mit Felix Wemheuer).

 

 

 

 

 

Ähnliche Artikel

Das Bildungsbürgertum blickt auf uns herab, weil unsere Horizonte angeblich zu eng seien. Die Bohème verabscheut unsere Sekundärtugenden. Die Linke hasst uns, weil wir ihre Revolution nicht ins Werk setzen. Und die politische Kaste dichtet uns Ausländerfeindlichkeit an, um in unserem Namen ihre xenophobe Politik durchzusetzen.
„Arbeit“ ist zutiefst verwoben mit Identität, Anerkennung und (symbolischer) Teilhabe an Gesellschaft.
Wie als Künstlerin in einer Gesellschaft leben und arbeiten, die nach wie vor – vielfach nicht ausgesprochen und unbewusst, dafür aber umso so wirksamer – von einem männlich konnotierten Künstler-Genie-Bild ausgeht?