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Nimmt man den Begriff „Sozialreportage“ wörtlich, so handelt es sich um eine Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse oder Phänomene. Etwas darzustellen kann bedeuten, es ins gesellschaftliche Bewusstsein zu holen, ist aber auch stets gekennzeichnet durch die Wahl einer bestimmten Repräsentationsform, die durch den Prozess der Darstellung selbst erst entsteht und somit zwangsläufig zu dem Gegenstand Partei ergreift.

Nimmt man den Begriff „Sozialreportage“ wörtlich, so handelt es sich um eine Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse oder Phänomene. Etwas darzustellen kann bedeuten, es ins gesellschaftliche Bewusstsein zu holen, ist aber auch stets gekennzeichnet durch die Wahl einer bestimmten Repräsentationsform, die durch den Prozess der Darstellung selbst erst entsteht und somit zwangsläufig zu dem Gegenstand Partei ergreift. Gayatri C. Spivak schildert diese Problematik in Bezug auf die Darstellbarkeit subalterner Gruppen durch Akteure der sie dominierenden Gruppen, die in komplexen Machtverhältnissen nur zur Manifestation der Subalternität führen können (Spivak 2006[1988]: 32f).

Jede Repräsentation sozialer Realitäten kann zudem immer nur Ausschnitte einer abstrakten „Wahrheit“ zeigen, womit sie automatisch zu einem politischen Statement wird. Darin liegt sowohl Problematik als auch Potenzial der Sozialreportage. Was Eva Hohenberger bezogen auf filmische Dokumentarformate die „vorfilmische Realität“ (Hohenberger 1988) nennt, also das, was im Moment des Filmens zustande kommt, unterscheidet sich fundamental sowohl von dem, was später in Form des fertigen Films zu sehen sein wird, als auch von dem, was sich in der gleichen Situation ohne die Kamera abgespielt hätte.

Inszenierung und Macht

Dies zeigt bereits eines der ältesten Filmdokumente, La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon der Brüder Lumière aus dem Jahr 1895: In frontaler Ansicht sieht man Arbeiterinnen aus dem Fabriktor strömen und vor der Kamera nach links oder rechts abbiegen. Lang galt dies als überaus reale Ansicht einer alltäglichen Situation. Der inszenierte Charakter ist jedoch mittlerweile evident: Die Kamera, zur damaligen Zeit ein fremdartiges Gerät, hätte bei einem unvorbereiteten Dreh von den Frauen sicherlich irgendeine Art von Reaktion ausgelöst. Weiter ist zu vermuten, dass nicht nur die vorangegangenen Regieanweisungen, sondern auch die Tatsache, dass der Film ein Projekt der Fabrikbesitzer persönlich war, zu einer Disziplinierung zur Natürlichkeit führte. Kein Wunder, bildet doch seit jeher die Kamera ein kulturelles Produktionsmittel zur Herstellung von Bildern und Diskursen, das nicht jedermann (geschweige denn -frau) zur Verfügung steht.

Die Problematik der Sozialreportage liegt jedoch nach wie vor darin, dass ihr ein besonderes Image der Glaubhaftigkeit anhaftet. Anders als beispielsweise beim fiktionalen Film oder bei historischen Dokumentarfilmformaten werden Sozialreportagen in der Regel nicht explizit dazu verwendet, die eigene Macht (der Filmer_innen oder Auftraggeber_innen) darzustellen, die eigene Wahrheit zu untermauern und Geschichte zu deuten und zu schreiben. Stattdessen treten Sozialreportagen oft mit dem Anspruch auf, sich den Themen der „einfachen Bevölkerung“, von marginalisierten Personen(-gruppen), anzunehmen und deren „Realität(en)“ zu zeigen. Dies trägt zu dem Image bei, Sozialreportagen seien in besonderem Maße „authentisch“ und würden die Dinge nur so zeigen, wie sie tatsächlich vorgefunden werden und wie sie dementsprechend auch seien.

Eine solche Ansicht ist jedoch in zweifacher Weise problematisch: Zum einen beschreibt sie eine Spielart des Otherings, bei der Marginalisierten eigene Interessen und Handlungsmacht (auch innerhalb des filmischen Prozesses) abgesprochen werden, indem sie als unschuldige Träger_innen des Wahren, Reinen, Authentischen dargestellt werden und man sie damit im Grunde einer Kultur – die immer streitbar ist – beraubt. Zum anderen wird die Macht, die sich im filmischen Prozess tatsächlich manifestiert, weginszeniert.

Da vorhandene Machtverhältnisse da, wo sie am wenigsten wahrgenommen werden, besonders wirkungsmächtig sind, wird die Sozialreportage zu einer besonders heiklen und genau zu untersuchenden Form der Wissensvermittlung. Im Folgenden sollen häufige Erscheinungsformen dieser Problematik am Beispiel aktueller Filme herausgearbeitet werden.

Der „unschuldige Blick“

Die Weginszenierung der Macht tritt oftmals auch – und gerade dann – auf, wenn Regisseur_innen an den zu filmenden Stoff – soziale Realitäten – herangehen, indem sie den Eindruck erwecken, nur „Einblicke“ zu eröffnen, auf deren Grundlage der_die Betrachter_in sich ganz unabhängig eine Meinung bilden könne. Als Beispiel hierfür kann Megacities (Glawogger, A 1998) gelten. Michael Glawogger beschreibt die Kameraführung wie folgt: „Die Kamera geht herum und schaut, sie schaut um sich, sie schaut wo hinein, sie schaut wie einer, der auf der Straße geht“ (Audiokommentar, Edition Standard). Tatsächlich erweckt der Film den Eindruck von Szenen und Geräuschfragmenten, die aufeinander folgen wie unverarbeitete Eindrücke, die sich im Kopf des Reisenden vermischen und überlagern. Mit dem einzigen gemeinsamen Nenner, Megacities von „unten“ zeigen zu wollen. So sieht man einen Mann, der auf dem Boden kniend Farbstaub siebt. Jedes Mal, wenn er mit einer neuen Farbe arbeitet, färbt sich das gesamte Bild – er selbst, seine Umwelt und die Luft, die er einatmet – in dem jeweiligen Ton. An dieser Szene wird die Ästhetisierung von Armut und harter Arbeit deutlich, die dem gesamten Film zu Grunde liegt. So wandelt man von einer imposanten Kulisse zur nächsten und wird Zeuge_in davon, dass die Welt ist, wie sie ist. Die intuitive Haltung des Filmemachers erweckt den Eindruck eines unschuldigen Blicks. Dass dieser ein ganz bestimmter – westlicher und männlicher – ist, erfährt man derweil nicht. Auch nicht, wie die Szenen im Einzelnen zustande kamen – dass beispielsweise (wie man im Audiokommentar erfährt) ein Geschäftsverhältnis zwischen Protagonist_innen und Filmemacher bestand.

Eine gegenläufige Art der Ästhetisierung wird besonders deutlich an einer Szene aus Workingman’s Death (Glawogger, A 2005). Eine von sechs Episoden des Films zeigt einen Schlachthof in Nigeria. Man sieht Rauch, Feuer, ein Gewimmel aus Menschen und Tieren inmitten von Blut, Knochen- und Fleischteilen frisch geschlachteter Tiere. Immer wieder werden in Großaufnahme oft von bloßen Menschenhänden auseinandergehaltene, frisch ausblutende Tierteile gezeigt. Dabei werden Klischees, die in unserer Gesellschaft über afrikanische Menschen vorherrschen, abgebildet und reproduziert. Die Art, wie die Handlungsabläufe in diesem für Außenstehende zwangsläufig undurchsichtigen, komplexen Arbeitsbereich unkontextualisiert dargestellt werden, erweckt den Eindruck von planlosem Chaos. Beispielsweise sieht man jemanden einen Ochsenkopf über den gesamten Platz schleifen und ihn plötzlich ablegen und weitergehen. Es wird (interessanterweise im Unterschied zu den vorangegangenen Episoden des Films) nicht eine bestimmte Person in ihrem konkret abgegrenzten Arbeitsumfeld begleitet, wodurch die Sequenz zusätzlich unpersönlich bleibt. In einer Szene unterhält sich eine Gruppe der Arbeiter lautstark darüber, welche Tiere sie verarbeiten, bis einer den anderen fragt, ob er auch Menschen verarbeite. Gut möglich ist, dass es sich hierbei sogar um eine ironische Anspielung des Sprechers auf die Situation, (von einem Weißen!) gefilmt zu werden, handelt. Man weiß es nicht, schließlich lässt der Film für eine Interaktion mit seinen Protagonist_innen keinen Platz. Unhinterfragt, vor dem Hintergrund blutverschmierter Menschen zwischen Schmutz und Feuer, bleibt so das Bild vom afrikanischen Kannibalen.

Historisch gewachsen und veränderbar

Bei der Problematik der Sozialreportage handelt es sich also um die versteckte Mitlieferung von Macht und die dadurch ermöglichte Etablierung von Bildern der_s (sozial/kulturell) „Anderen“. Dies ist mehr als die bloße Reproduktion von Klischees; es manifestiert die Kategorisierung von Menschen und trägt dazu bei, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse zu legitimieren. Es lässt sich zudem eine Parallele erkennen zwischen einer solchen „dokumentarischen Haltung“ und einer allgemeinen Tendenz innerhalb der Sozialwissenschaften, es sich zur Aufgabe zu machen, Gegebenes festzustellen, statt nach einem „Warum“ zu fragen und zu untersuchen, welche Veränderungsmöglichkeiten in einer Situation bestehen, die als historisch gewachsen und somit als veränderbar gesehen wird.

Werfen wir zum Schluss einen kurzen Blick auf verschiedene Versuche von Gegenentwürfen.

Ein Ansatz besteht darin, von einer problematischen politischen Situation als Exempel auszugehen und damit auf – dem System immanente – Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Zwei in ihrer filmischen Form sehr unterschiedliche Beispiele wählen die Auswirkungen einer Werkschließung auf die ansässige Bevölkerung: Roger & Me (Moore, USA 1989) und Postadresse 2640 Schlögelmühl (Humer, A 1990). Im ersten Fall portraitiert der Regisseur Michael Moore sich selbst in seiner für den Film inszenierten Konfrontation mit den Autoritäten und stellt durch provokative Gegenschnitte der Welt der Entscheidungsträger_innen die der Leidtragenden gegenüber. In Postadresse 2640 … kommen die verarmten Anwohner_innen zu Wort und geben Einblick in ihre miserablen Lebensbedingungen seit der Schließung. Dazu werden von einer Off-Stimme Dokumente zitiert, die den Niedergang des Ortes dokumentieren, untermalt mit kargen, dusteren Kamerafahrten über das verlassene Fabrikgelände. In Wir sitzen im Süden (Priessner, D/T 2010) werden in Deutschland aufgewachsene Deutsch-Türk_innen und ihre Lebensentwürfe portraitiert, die nicht verwirklicht werden konnten, da sie nun nicht zurück dürfen – von deren Deutschkenntnissen aber deutsche Callcenter mit Sitz in der Türkei profitieren.

Ein weiterer, von Jean Rouch als Cinéma Vérité begründeter Ansatz besteht darin, sich in der Rolle der Filmemacher_in reflexiv zu thematisieren. Ein kontrovers diskutiertes Beispiel ist The Good Woman of Bangkok (O’Rourke, AU 1991). O’Rourke portraitiert hierbei eine junge Prostituierte in Bangkok, verschweigt aber seine eigene Position als weißer, westlicher Filmemacher nicht, und auch nicht, dass er sie – wenn auch nicht als Prostituierte, so doch als Protagonistin – bezahlt. Indem seine Protagonistin selbst dieses Verhältnis reflektiert und auf ihre Unabhängigkeit ihm gegenüber besteht, als er sie überreden will, mit der Prostitution aufzuhören, nimmt sie im Film jedoch die Position einer handlungsmächtigen Akteurin ein. Der Film gewinnt dadurch an Reflexivität, die die Machtverhältnisse, die sich im Filmprozess manifestieren, und die äußeren Machtverhältnisse zwischen westlichen Freiern und thailändischen Prostituierten widerspiegeln, offenlegt (ausführlicher hierzu: Williams 1999). Anja Salomonowitz schafft in Kurz davor ist es passiert (A 2006) eine Involviertheit der_s Zuschauer_in, indem sie Geschichten von erzwungener Sexarbeit und Menschenhandel von anderen Menschen in ihrem gewohnten Umfeld erzählen lässt und damit das unangenehme Gefühl erzeugt, dass man tagtäglich an ähnlichen Schicksalen vorbeilebt.

Die Verschiedenheit der Ansätze zeigt, wie sehr Inhalt und Form zusammenhängen und Potenzial und Fallstricke der Sozialreportage beeinflussen. Es bleibt also auf weitere Versuche zu hoffen, reflektiert und kritisch auf gesellschaftliche Diskurse einzuwirken und subversive Gegenbilder zu schaffen.

Literatur

Hohenberger, Eva (1988): Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch. Hildesheim/New York/Zürich (Georg Olms Verlag).

Spivak, Gayatri Chakravorty (2006 [1988]): Can the Subaltern Speak? In: Ashcroft, Bill/Garth Griffiths/Helen Tiffin (Hg.): The Post-Colonial Studies Reader. New York (Routledge), S. 28-38.

Williams, Linda (1999): The Ethics of Intervention: Dennis O’Rourke’s The Good Woman of Bangkok. In: Gaines, Jane M./Renov, Michael (Hg.): Collecting Visible Evidence. Minneapolis (University of Minnesota Press), S. 176-190.

 

Aylin Basaran ist Universitätsassistentin am Schwerpunkt visuelle Zeit- und Kulturgeschichte/Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien. Sie studierte Ethnologie und realisierte verschiedene dokumentarische Kurzfilme.

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