Demos ohne Polis

„Wenn ihr unsere Forderungen nicht erfüllen wollt, dann löscht zumindest unsere Fingerabdrücke aus euren Datenbanken und lasst uns weiterziehen. Wir haben ein Recht auf unsere Zukunft.“

Aufbegehren in Zonen postdemokratischer Indifferenz. 

„Wenn ihr unsere Forderungen nicht erfüllen wollt, dann löscht zumindest unsere Fingerabdrücke aus euren Datenbanken und lasst uns weiterziehen. Wir haben ein Recht auf unsere Zukunft.“

Refugee Protest Camp Vienna

Schlafsäcke und Isomatten sind keine Meinungsäußerung“

Diesem Befund, der Ende 2012 mit an Arroganz grenzender Nonchalance vom innenpolitischen Sprecher der Berliner CDU-Fraktion namens Robbin Juhnke erstellt wurde, sei folgende Diskussion gewidmet. Zumal er sich auf eine Situation bezieht, in der gerade das zur Disposition zu stehen scheint, worüber Juhnke im Namen einer relativ weit verbreiteten Einstellung kategorisch zu befinden können glaubt: der Zeitraum und damit auch die Bedingungen der Möglichkeit von freier Meinungsäußerung, ja, der Äußerung seiner selbst, und zwar in dem Licht, das von Arendt in ihrer Schrift Vita Activa mit Nachdruck als „Licht des öffentlich politischen Bereichs“ (Arendt 2011: 48) bezeichnet wurde.

Als sich am 8. September letzten Jahres von Würzburg aus Menschen in Bewegung setzten, um nach fast 600 Kilometern Berlin zu erreichen, wo sie sich mit anderen mehr vor dem Brandenburger Tor versammelten, ihre Zelte aufschlugen, Isomatten ausbreiteten und sich mit Schlafsäcken wärmten, bevor sie von der Polizei zur Aufgabe aller Demonstrationsmittel mit Ausnahme ihrer Kleidungsstücke gezwungen und von Juhnke verbal zurecht gewiesen wurden, ging es nämlich genau darum: Eine keineswegs geringe Menge von Menschen, die ohne legalen Aufenthaltstitel zwischen den staatsbürgerlich Berechtigten lebt, ist nicht (länger) bereit, sich mit einem bestenfalls geduldeten Leben abzufinden, und begehrt auf, indem sie ihre Lebensbedingungen öffentlich macht – ein Aufbegehren am Rande der staatsbürgerlichen Wahrnehmung also, welches für den auf exklusive Repräsentation eingestellten Regierungsapparat grundsätzlich unerhört ist.

In diesem Sinne möchte ich mit folgendem Text ein relativ heterogenes Phänomen zur Diskussion stellen, welches in seiner scheinbaren Marginalität durchaus politisch ist: das Phänomen des Aufbegehrens von Menschen, die sich als Refugees zusammenfinden und ihr Leben öffentlich riskieren, indem sie sich anders präsentieren, als ihnen zugemutet wird. Und ich möchte Fragen aufwerfen, unter anderem auch jene, ob bzw. inwiefern es Gründe zur Annahme gibt, dass sich postdemokratische Verhältnisse nicht unbedingt dadurch auszeichnen, dass ehemals demokratische Politik qua öffentliche Debatte „zu einem reinen Spektakel verkommt“ (Crouch 2008: 10), wie von Colin Crouch vermutet wird, sondern dass sie eher in einer Faltung von Differenzen bestehen, für deren Bewahrung sich die liberale Staatsverfassung eingesetzt hat: etwa für die Bewahrung der Differenz von hoheitlich und extraterritorial, von zivil und militärisch, von Rechtsordnung und Ausnahmezustand, aber auch von privat und öffentlich? Immerhin hat es den Anschein, dass Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel gegenwärtig nicht unbedingt als das Andere der Rechtsstaatlichkeit erfasst werden, sondern sich gewissermaßen mit einer Indifferenz konfrontiert sehen, welche sich einerseits in Zonen verdichtet und andererseits auf das Niveau der Wahrnehmung ausdehnt.

Kristallisationspunkte der Indifferenz

Tatsächlich haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine Serie von Nicht-Orten (vgl. Augé 2011) in den politischen Erscheinungsraum gestülpt, die sich nicht einfach bestimmen lassen: Ob es sich um eine Bundesbetreuungsstelle für Asylwerber, um ein Centro di Permanenza Temporanea („Temporäres Aufenthaltszentrum“) oder um ein Kompetenzzentrum für aufenthaltsbeendende Maßnahmen handelt, der staatliche Umgang mit Menschen, die nicht darauf vertrauen können, als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt oder als ausländische Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zugelassen zu werden, konzentriert sich wiederholt in „Anstalten“, von denen sich kaum sagen lässt, ob sie sich innerhalb oder außerhalb der staatlichen Rechtsordnung befinden, zumal für jene Menschen, die darin von der Gemeinschaft der Aufenthaltsberechtigten ausgenommen werden, einige Grundrechte praktisch suspendiert worden sind. Entpolitisierend wirken solche Anstalten, die als materielle Kristallisationspunkte postdemokratischer Indifferenz begriffen werden können, insofern, als sie die Möglichkeit einer raum-zeitlichen Orientierung tendenziell aufheben, da zumeist im Unklaren bleibt, wann was geschieht, und zugleich doch ein Minimum an Lebensnotwendigem gewährt wird.

Allgemeiner gefasst stellt sich Indifferenz aber auch sonst ein, jedenfalls als Effekt eines Ensembles von aktuellen Regierungstechniken, die in Summe darum bemüht zu sein scheinen, das zu vermeiden, was theoretisch die staatliche Rechtsordnung auszeichnen sollte: Jurisdiktion und Verantwortlichkeit. Eine Agentur wie Frontex beispielsweise, die im Jahr 2004 durch eine Verordnung des Rates der Europäischen Union eingerichtet wurde, kann durchaus als ein paradigmatischer Agent des Regierens verstanden werden, der sich den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union strategisch zur Seite stellt und sie im Rahmen koordinierter Operationen, die insbesondere „illegale“ Einreisen verhindern und eine „geordnete“ Abschiebung garantieren sollen, von ihrer jeweiligen Verantwortlichkeit entbindet, das heißt dispensiert.

Sodass insgesamt Gründe zur Annahme bestehen, dass postdemokratische Verhältnisse zu einer gewissen Indifferenz neigen, die sich materialisieren kann, allerdings auch das Niveau der Wahrnehmung betrifft, zumal die Risiken, denen Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel tagtäglich ausgesetzt sind, so oft als bedauerliches, aber letzten Endes selbst verschuldetes Unglück beklagt werden. Was wiederum bedeutet, dass die tendenzielle Unzuständigkeit der staatlichen Politik für die Situation der Menschen ohne gültige Aufenthalts- oder Einreisepapiere dafür garantiert, dass die aktuellen Zustände offiziell nicht in Frage gestellt werden.

Szenen des Aufbegehrens

Als Ende September 2011 ein auf Lampedusa eingerichtetes Centro di Identificazione ed Espulsione in Flammen aufging und von den geschätzten 1.300 dort untergebrachten Menschen einige Hundert das Weite suchten, zirkulierten sofort Bilder, welche immer wieder eines erfassen wollten: den wütenden Tumult junger, frustrierter, männlicher Clandestini. Auch wenn manche Medien mit diesen Bildern der Wut sympathisierten oder zumindest ein gewisses Verständnis dafür aufzubringen bereit waren, so ließen sie sich im Allgemeinen auf ein Narrativ ein, das den Tumult – von dem kaum gesagt werden kann, ob er denn überhaupt stattgefunden hat – auf dem Niveau einer humanitären Katastrophe zu identifizieren vorschlug: ein wütender Tumult als massiver Protest gegen menschenunwürdige Anhaltebedingungen. Sodass die Medien mit ihrer Wahrnehmung eine Logik übernahmen und reproduzierten, welche in diesen Anstalten selbst waltet, eine Logik der humanitären Ethik, welche als „Trend“ gedacht laut Rancière „in Wirklichkeit der ‚Ausnahmezustand‘“ (Rancière 2011: 490) ist, in dem „wir“ heute leben. Sich einem Regime der Wahrnehmung zu verweigern, das in der Figur der Clandestini nichts anderes zu erkennen weiß als eine Menge besonders bedürftiger Menschen, die sich unter Umständen in rabiate Bestien verwandeln können, impliziert in diesem Sinn auch, Szenen des Aufbegehrens anders vernehmen zu lernen.

Das Aufbegehren von Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel ist jedenfalls weit verbreiteter, als jene wenigen, manchmal von Sorge und manchmal von Angst gekennzeichneten Beiträge in Medien vermuten lassen. Mit einer Intensität, die in Europa bisher unbekannt war, haben Sans Papiers erst kürzlich demonstriert, dass sie sich und wie sie sich quer durch europäische Staaten zu formieren vermögen, um ihrem Unvernehmen politischen Aus- und Nachdruck zu verleihen. Ohne dass prominente Medien davon Notiz nahmen, versammelten sich vom 2. bis zum 4. Juli 2012 mehrere hundert, aus verschiedenen Mitgliedsstaaten des Schengen-Raumes angereiste Sans Papiers und Migrant.Inn.en vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, um die Zivilbevölkerung ebenso wie Parlamentarierinnen und Parlamentarier während des ersten Europäischen Marsches der Sans Papiers und der Migrant.Inn.en daran zu erinnern, dass es nicht allein in den USA, sondern auch in Europa Millionen von Menschen gibt, die unter prekärsten Bedingungen arbeiten, unversichert krank werden, Familie haben, auf eine bessere Zukunft hoffen etc., ohne jedoch legal teil haben zu dürfen oder Ansprüche geltend machen zu können – Menschen, deren Leben extremen Risiken ausgesetzt ist.

Was diese oder andere Szenen des Aufbegehrens von konventionellen Formen des Protests unterscheidet, lässt sich eventuell mit folgenden Worten vermitteln: Zur Disposition steht nicht eine spezifische Benachteiligung, welche von Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel in einem Staat erlebt wird und gegen die aufzutreten sie unter Umständen auch bereit sind, sondern ein Zustand des prinzipiellen Unbeteiligtseins, das heißt eine Diskriminierung, welche sich unmöglich in dem Diskrimen, also Unterschied aufheben lassen wird, den der Staat zu repräsentieren beansprucht. Ihrer prekären Situation entsprechend riskieren Sans Papiers nichts anderes als ihr Dasein, wenn sie in Zonen postdemokratischer Indifferenz aufbegehren und ihre Lebensbedingungen öffentlich zu machen wagen. Sodass es ungeachtet der oberflächlichen Kontinuitäten zwischen den diversen Demonstrationen, die zur Geschichte des zivilen Ungehorsams gerechnet werden können und den aktuellen Refugee Struggles auch gravierende Differenzen gibt, die nicht zuletzt darin bestehen, dass Refugees eine relativ undifferenzierte und mithin verstörende Gleichheit zu präsentieren vermögen, eine demokratische Gleichheit von de facto Staatenlosen.

Juhnkes Befund muss also entschieden widersprochen werden. Schlafsäcke und Isomatten haben ebenso wie Zelte oder Unterstellplätze aus Pappkarton einen politischen Anteil an dem, was gegenwärtig das Leben von Anteillosen bestimmt. Diese Mittel zeugen mit ihrer Vulnerabilität und Volatilität, das heißt Verletzbarkeit und Flüchtigkeit davon, dass in einer Sphäre des Sozialen, die sich zunehmend als Projekt-Polis legitimiert und in der Bindungen theoretisch nur noch deshalb geknüpft und gepflegt werden sollten, um temporäre, projektbezogene Aktivitäten zu unternehmen, Weltlosigkeit und Ortlosigkeit die ineinander greifenden Konsequenzen einer radikalen Revision, sprich: Deregulierung von staatsrechtlichen Differenzen sind, welche besonders jene Menschen gefährdet, die als „Illegale“ erfasst werden, welche aber auch Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter betrifft.

Ob bzw. inwiefern sich in nächster Zukunft ein Erscheinungsraum etablieren wird, der nicht durch Verunsicherung charakterisiert ist, wird wohl auch davon abhängen, welche Äquivalenzketten (von Interessen und Haltungen) zwischen den diversen Mengen an prekär Lebenden gebildet werden können – wie „wir“ uns am demokratischen Begehren von de facto Staatenlosen zu beteiligen vermögen.

Literatur

Arendt, Hannah (2011): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München.

Augé, Marc (2011): Nicht-Orte. München.

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt/Main.

Rancière, Jacques (2011): „Wer ist das Subjekt der Menschenrechte?“ In: Menke, Christoph/Raimondi, Francesca (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Frankfurt/Main. S. 474-490.

Anmerkung

Dieser Text ist eine Kurzfassung jenes Beitrages, der im Sammelband Postdemokratie und die Verleugnung des Politischen, hg. von Andreas Hetzel, Thomas Hübel und Gerhard Unterthurner (Nomos-Verlag 2013), veröffentlicht wird.

Andreas Oberprantacher arbeitet am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck und engagiert sich im „Fluchtpunkt“ (www.fluchtpunkt.org), einem Projekt des Vereins arge-Schubhaft.

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