Entlang des Bolivarianischen Prozesses

„Wie kämpft eine Fabrik in einem kapitalistischen Rahmen für den Sozialismus?“

Es kommt nicht oft vor, dass ich nach dem Besuch eines Museums oder einer Galerie zufrieden und angeregt bin, oder gar über Revolution nachdenke. Ich gehe sicherlich selektiv vor bei der Frage, welche Art von „Arbeiten“ ich mir ansehe. Dass es wahrscheinlicher ist, dass ich eine positive Erfahrung mache, wenn ich in den Laden an der Ecke gehe, als wenn ich durch die Hallen gut finanzierter Kunstinstitutionen wandle, sagt einiges über mein eigenes Begehren aus und worin ich Kreativität im Umgang mit der Welt wahrnehme, ebenso wie über die Themen, die den Großteil der Kunstwelt beschäftigen. Doch ab und zu bereichert ein Museumsbesuch tatsächlich mein Leben. Hin und wieder benützt jemand ein Medium so, dass es unsere stark mediatisierte Existenz durchschneidet und mich näher an eine Erfahrung oder ein Wissen heranbringt, die sonst verborgen oder schwer zugänglich sind.

Als ich am 26. März ins kalifornische Berkeley Art Museum fuhr, zur Eröffnung der dritten Zusammenarbeit von Dario Azzellini und Oliver Ressler, 5 Factories – Worker Control in Venezuela, war ich hoffnungsvoll, vielleicht etwas zu lernen, aber auch skeptisch, dass es nur wieder eines dieser unbefriedigenden Kunstprojekte über eine dringende soziale und politische Situation sein würde. Ich wurde angenehm überrascht. Die Ausstellung, die begleitenden Aufsätze und die Paneldiskussion ließen mich nicht nur über die aktuellen sozialen und politischen Veränderungen in Venezuela nachdenken, sondern darüber hinaus über die Rolle der Kreativität in sozialen Revolutionen und die Implikationen der Feier dieser Kreativität im Museum.

Die Installation 5 Factories stellt den Beginn des einjährigen Ausstellungszyklus’ „Now-time Venezuela: Media Along the Path of the Bolivarian Process“ dar. Wie der Titel der Serie sagt und der einleitende Text des Koordinators, Chris Gilbert, exemplifiziert, sind die Arbeiten der Serie „nicht nur oder vor allem Repräsentationen von oder Reflexionen über diesen Prozess, sondern … verlaufen selbst entlang dieses Weges“.

Nicht Subjekte, sondern Handelnde

Diese Unterscheidung erklärt eine Richtung, in der Azzellinis and Resslers Projekt – und auch dem gesamten Ausstellungszyklus – Bedeutung zukommt. Anders als andere Ausstellungen über revolutionäre Prozesse oder Projekte verkehrt dieses nicht, um Henri Lefebvre zu paraphrasieren, die Effekte einer Strate- gie in ein ästhetisches Objekt. Es ist eine dokumentarische Arbeit, aber eine, die die Handlungsfähigkeit ihres/r Subjekts/e aufrechterhält. Die Tatsache, dass die Videos die BetrachterInnen in einen Prozess involvieren und die ArbeiterInnen für sich selbst sprechen lassen, dass diese eigentlich nicht Subjekte (im Sinne von Gegenständen), sondern Handelnde sind – verlagert die Dynamik so, dass dadurch meine üblichen Bedenken hinsichtlich Handlungsfähigkeit und Repräsentation beseitigt wurden. Wie auch andere, die mit VenezolanerInnen arbeiten, waren Azzellini und Ressler sicherlich selektiv hinsichtlich der Auswahl der ArbeiterInnen der fünf selbstverwalteten Fabriken, die sie interviewten. Doch ist ihr Projekt gerade darin erfolgreich, dass den ZuschauerInnen direkter Zugang zu den Stimmen, Erfahrungen und Erkenntnissen jener ArbeiterInnen gewährt wird, die in die Kämpfe für und die Rückforderung der Produktionsmittel involviert sind. Es erinnert die ZuschauerInnen daran, dass das, was in Venezuela gerade vor sich geht, nicht nur – oder vor allem – mit Chávez zu tun hat.

Die sechs zehnminütigen Videoinstallationen zeigen Interviews mit ArbeiterInnen verschiedener Fabriken – eines Textilbetriebs, eines Aluminiumwerks, einer Tomaten- und einer Kakaofabrik und einer Papierfabrik. Jedes dieser Werke wurde im Rahmen eines Selbstverwaltungssystems umgestaltet, das durch die Bolivarianische Verfassung von 1999 ermöglicht worden war. Die Verfassung bereitet den rechtlichen Rahmen dafür, dass stillgelegte Fabriken produktiv gemacht werden, indem sie als Kooperativen von den ArbeiterInnen verwaltet und besessen werden. In einigen Fällen stellte der Staat Start-up-Darlehen zur Verfügung; in anderen Fällen hilft er beim Erwerb der Fabrik in Partnerschaft mit der Kooperative.

Prozesse der Umgestaltung der Industrie

In den Videos erklären die ArbeiterInnen Entscheidungsprozesse innerhalb der Kooperative und die Rolle der Fabrik in Bezug auf die Unterstützung der umliegenden Gemeinde. Sie bieten wohlüberlegte Reflexionen über die intellektuellen Traditionen, mit denen sie sich auseinandersetzen und über die Bedeutung ihrer Bemühungen. Obwohl die Situation in jeder Fabrik anders ist, teilen die ArbeiterInnen die Verbindlichkeit im Einsatz für einen gerechteren Produktionsprozess und ein besseres Leben. Ergänzt durch Bildsequenzen zum Produktionsprozess in den Betrieben, lassen die Interviews die BesucherInnen unmittelbar in den Prozess der Umgestaltung der Fabriken eintreten. Es ist Azzellinis und Resslers Verdienst, dass der Film, der ab Mai 2006 in der Einkanalfassung auf DVD erhältlich sein wird, ein klares Medium für den Zugang zu diesen Informationen ist. Er versieht uns detailreich mit klaren Aussagen, die sonst nicht so leicht zu bekommen sind.

Aber was, könnten Sie fragen, ist das besonders Befreiende gerade an industrieller Produktion? Vielleicht ist nichts an sich Befreiendes daran, oder an jeder anderen Form von Arbeit per se. Doch in einer Welt, in der Arbeit für die meisten Menschen eine feste Gegebenheit ihres Lebens darstellt, bleibt das Potenzial für die Verwandlung einer sonst gewaltsamen Beziehung in eine der Befreiung, solange es nicht aktiv zum Vorschein gebracht wird, im Dunkeln. In einer neoliberalen Ordnung, die sich nicht um die Menschen schert und in der unmenschliche Arbeitsbedingungen sich ausbreiten, wird die Schaffung eines inklusiveren und verantwortungsvollen Produktionsprozess zu etwas, das gefeiert werden muss. Eine solche Veränderung ist ein maßgeblicher Schritt in einem großen sozialen Transformationsprozess. Wie Elio Sayago, Umwelttechniker und Mitglied des Direktoriums des Aluminiumwerks Alcasa sagt: „Wenn wir – und darum geht es uns vor allem – unsere ArbeiterInnen, unsere Leute auf die Herstellung neuer gesellschaftlicher Beziehungen konzentrieren, garantieren wir, dass die … bisherige Blockierung der potenziellen menschlichen Entwicklung aufgehoben wird“. Durch die Videos dringt die Kraft dieser Vision, laut und deutlich.

Wie kämpft eine Fabrik in einem kapitalistischen Rahmen für den Sozialismus?

Um es anders auszudrücken: die ArbeiterInnen in Venezuela benützen ihre Arbeit, um mit einer wesentlichen Frage zu experimentieren. Carlos Lanz, Präsident des Aluminiumwerks Alcasa, fasst es gut zusammen: „Wie kämpft eine Fabrik in einem kapitalistischen Rahmen für den Sozialismus?“ Es ist klar, dass man damit zu beginnen versucht, in der Praxis kohärente Werte außerhalb des Kapitals zu etablieren und diese in der Verfassung rechtlich verankert. Artikel 113 der bolivarianischen Verfassung sichert beispielsweise „eine adäquate Berücksichtigung oder Kompensation im Dienste des öffentlichen Interesses“ im Falle der Ausbeutung natürlicher Vorkommen, die sich im „Eigentum der Nation“ befinden. Artikel 114 verurteilt „Wirtschaftsverbrechen, Spekulation, Hortung, Wucher, Kartellbildung und andere damit verbundenen Vergehen“ als illegal. Das soziale Interesse ist für die von den ArbeiterInnen selbstverwalteten Fabriken eine klare Verpflichtung. Als Unternehmen sozialer Produktion geben sie über einen lokalen Entwicklungsfonds 10 % ihres Gewinns an die Standortgemeinschaft zurück. In zwei der Fabriken erhalten alle den gleichen Lohn, unabhängig von ihrer Position in der Firma. Die fünf in dem Film dargestellten Fabriken gehören zu 155 Fabriken, die laut Arbeitsministerin Maria Cristina Iglesias bereits von ArbeiterInnen-Kooperativen verwaltet werden. Sie stehen am Beginn des Weges einer wichtigen Verschiebung in unserem Denken über industrielle Produktion und andere Formen von Arbeit. Wie Azzellini während der Eröffnungsdiskussion sagte, geht es darum, „dass die Ökonomie für das Wohl der Gesellschaft arbeitet, nicht die Gesellschaft für das Wohl der Ökonomie“.

5 Factories bietet einen detaillierten Blick auf die Umgestaltung der Fabriken, aber das ist nur eine Komponente des gegenwärtigen Wandels. Die Installation baut auf einer früheren Zusammenarbeit von Azzellini und Ressler auf, nämlich auf dem Video Venezuela von unten (2004), in dem ebenfalls Interviews zur Illustration einer Vielfalt von Programmen und Veränderungen verwendet wurden – von der Erdölsabotage bis zu den Kämpfen von Bauern und Bäuerinnen, Landreformen, Grassroot-Medienprojekten und einer Frauenbank. Auch hier liegt die Stärke des Projekts im Ansatz, als ZuseherIn die Geschichten und Gedanken jener Menschen zu hören, welche sich an den Aktionen beteiligten – und zwar in deren eigener Stimme.

Eine kuratorische Agenda

Dass Chris Gilbert Museumsressourcen verwendet, um Propaganda „zur Unterstützung, Verteidigung und Bewerbung der Revolution in Venezuela und der Bolivarianischen Regierung von Hugo Chávez“ zu schaffen, verdient einige Aufmerksamkeit. „Künstlerische Arbeiten oder Ausstellungen, die revolutionäre Ziele vorantreiben“, schreibt Gilbert, „sind kreativ, schon kraft dessen, womit sie sich verbinden und wozu sie beitragen.“ Dieser Ausstellungszyklus ist Beweis für sein Engagement dafür, „den Überbau zurück auf den Tisch zu legen“ (Gilbert), anzuerkennen, dass die politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen, in denen wir leben, der Kontext sind, in dem Kreativität operiert und die Sphäre, in der Kunst ihre Relevanz und Dringlichkeit erhält.

Gilberts kuratorische Agenda unterscheidet seine Arbeit als eine Art von Organisierung in einem Feld, in dem die meisten KuratorInnen auswählen. Indem der Ausstellungszyklus Museumsressourcen zur Sichtbarmachung der inhärenten Kreativität von sozialen Revolutionen einsetzt, subvertiert Gilbert die internen Mikropolitiken des Kunstdiskurses: dadurch, dass er sie ignoriert. Er bringt die Makropolitiken der Kämpfe gegen den Kapitalismus zurück auf die Agenda. Dass er dies vom Inneren der Institution – des Kunstmuseums – aus macht, die vielleicht am besten die Architektur der bürgerlichen Legitimität verkörpert, zeigt, dass es möglich ist, das Museum als ein Vehikel zu behandeln. Deshalb ist dieser Ausstellungszyklus mehr als eine wichtige Geste innerhalb der Welt der Kunst. Ein starkes Medium wurde produziert – ein Stück revolutionärer Propaganda –, das über die Mauern der Institution hinaus reisen wird, zurück in die Welt, wo neue Kreativitäten Form annehmen. Und für einen kurzen Moment transformiert sich die Institution in einen sicheren Ort, an dem die BesucherInnen direkten Zugang zu Informationen über ein sehr sensibles Thema erhalten und zu ihren eigenen Schlüssen kommen können.

Ava Bromberg ist Autorin, Denkerin und Studentin der Städte, lebt derzeit in Los Angeles.

Übersetzung: Therese Kaufmann, Markus Griesser

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