Billig, flexibel und unorganisierbar?

Heimarbeiterinnen in der Türkei kämpfen für ihre Rechte.

„N'örüyon?“ – Die türkische Begrüßung „Was strickst du?“ gehört in Teilen Mittelanatoliens zum alltäglichen Sprachgebrauch. Heimarbeiterinnen stricken Taschen, Socken und Decken für sehr wenig Geld. Sie häkeln aber auch Blumen und weben Teppiche. Andere basteln Geschenkboxen oder arbeiten für die Elektroindustrie. In ihren eigenen vier Wänden arbeiten Heimarbeiterinnen meist isoliert und informell. Sie „stricken“ aber nicht nur Produkte, die sie dann entweder an eineN SubunternehmerIn übergeben oder am Markt direkt verkaufen, sondern auch Solidaritätsnetzwerke in ihrer Nachbarschaft und über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Was aber sind die besonderen Herausforderungen in der Organisierung dieser einst als unorganisierbar geltenden Berufsgruppe? Welche Erfahrungen und Erfolge zeigt das Beispiel der Heimarbeiterinnenbewegung in der Türkei?

Isoliert und unsichtbar

Heimarbeit ist eine Form von Lohnarbeit, die zu 80 Prozent von Frauen ausgeübt wird. Weltweit erhielt Heimarbeit durch die neoliberale Politik der Flexibilisierung und Informalisierung einen enormen Aufschwung. Seit den Strukturanpassungsprogrammen und der neoliberalen Umstrukturierung der Wirtschaft ist die Anzahl der informellen ArbeiterInnen auch in der Türkei drastisch gestiegen. Durch die Fragmentierung und Flexibilisierung der Produktion wurden viele Schritte auf den Haushalt ausgelagert, um Produktionskosten zu sparen und Arbeitskämpfe zu verhindern. Heimarbeiterinnen nahmen daher ab den 1980ern als meist unorganisierte, flexible und billige Arbeiterinnen eine zentrale Funktion in der exportorientierten Wirtschaft der Türkei ein.

Der Arbeitsplatz der Heimarbeiterin ist ihr eigenes Zuhause, das „feminisierte“ und private Heim, welches in kapitalistischen Gesellschaften als zentraler Ort der sozialen Reproduktion dient. Viele Frauen erhalten von ihren Familien nicht die Erlaubnis, einer Beschäftigung außerhalb des Haushaltes nachzugehen. Sie verfügen auch häufig nicht über die Mittel, um teure Betreuungsplätze für Kinder oder ältere Menschen zu bezahlen oder suchen in der formellen Wirtschaft erfolglos nach einer fixen Anstellung. Lohnarbeit innerhalb des Haushaltes ermöglicht Heimarbeiterinnen daher, sowohl Sorgearbeit nachzugehen als auch Einkommen zu generieren. Ab den 1980ern wurden aufgrund dessen viele Frauen in die informelle Wirtschaft gedrängt, die sich als kostensparender und flexibler erweist. Da der Auftraggeber Teile der Produktion auf den Haushalt auslagert und diese Arbeit informell erfolgt, bleibt der Anteil, den Heimarbeiterinnen an die türkische Wirtschaft liefern, undokumentiert und unsichtbar. Als informelle Arbeiterinnen verfügen sie daher über keine soziale Absicherung, keinen Mindestlohn, keinen Arbeitsschutz sowie kein Anrecht auf Arbeitslosengeld oder Mutterschutz.

Heimarbeit findet hinzukommend in sozialer Isolation statt. Dass Heimarbeiterinnen ihre Tätigkeit meist nicht in gemeinsamen Räumlichkeiten durchführen, behindert nicht nur die Kontaktaufnahme mit Personen außerhalb des familiären und nachbarlichen Umfeldes, sondern auch den Austausch und die Solidarisierung mit anderen Heimarbeiterinnen. Die meisten kämpfen daher individuell gegen die niedrigen Stückpreise und verhandeln allein mit den ZwischenhändlerInnen, die immer wieder versuchen, den Akkordlohn durch psychischen Druck zu senken. Um neue Aufträge und somit Einkommen zu erhalten, akzeptieren Heimarbeiterinnen häufig niedrigere Entlohnung. In der Nachbarschaft entsteht daher verstärkt Konkurrenz statt Solidarität.

Kein Hobby, sondern Arbeit

Eine der größten Herausforderungen in der Organisierung von Heimarbeiterinnen besteht darin, dass sie nicht nur von ihren Familienmitgliedern und dem Staat nicht als Arbeiterinnen anerkannt werden, sondern sich auch selbst als nicht-arbeitende, „gute“ Hausfrauen sehen. Die Herstellung von Taschen, Kuchen oder Nudeln stellt für viele nur eine Ausweitung ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter dar. Sie übernehmen die Identität der Hausfrau und Mutter und betrachten ihre Lohnarbeit als Hobby. Demzufolge bezeichnen sie ihr Einkommen auch nicht als Lohn, sondern als Taschengeld oder Marktgeld. Wie Silvia Federici (2012) bereits in Bezug auf Hausarbeit argumentierte, nimmt der Lohn in kapitalistischen Gesellschaften eine wichtige Funktion in der Spaltung der ArbeiterInnenklasse in „arbeitende“ und „nicht-arbeitende“ Menschen ein. Diese ideologische Konstruktion als „nicht-arbeitend“ verschleiert die schlechten Arbeitsbedingungen von Heimarbeiterinnen und erschwert Solidarität und Organisierung.

Obwohl Heimarbeiterinnen lange Zeit aufgrund ihrer Isolation als unorganisierbar galten, haben sich weltweit seit den 1970ern Heimarbeiterinnenorganisationen von Indien über Madeira bis Kanada gebildet, welche für die Anerkennung der Heimarbeiterinnen kämpfen. Der Bewegung ist 1997 einer der größten Erfolge geglückt: Die Konvention C177 zur Heimarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurde angenommen und somit HeimarbeiterInnen international als ArbeiterInnen anerkannt. Derzeit haben erst zehn Länder die Konvention ratifiziert. Die Türkei weigert sich weiterhin, diese zu unterschreiben.

In der Türkei reicht die Organisierung von Heimarbeiterinnen bis in das Jahr 1995 zurück. Heute gibt es zahlreiche lokale Kooperativen, unregistrierte Arbeitsteams, Marktgruppen und eine nationale Heimarbeiterinnengewerkschaft, die für die Anerkennung von Heimarbeiterinnen und für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpft.

Kooperative als solidarische Form der Produktion

Die spezielle Lebens- und Arbeitssituation von Heimarbeiterinnen bedarf kreativer und holistischer Ansätze. Ein Beispiel für eine lokale Strategie der Organisierung ist Kozadan İpeğe („vom Kokon zur Seide“), eine 2007 in Ankara gegründete Heimarbeiterinnen-Kooperative. Nach dem Vorbild der „Militanten Untersuchung“ wurden Fragebögen in verschiedenen Bezirken Ankaras verteilt. Eine zentrale Rolle spielten dabei vor allem Kontaktpersonen, welche in den jeweiligen Vierteln lebten und häufig selbst als Heimarbeiterinnen tätig waren. Der Fragebogen als Form der aktivierenden und parteilichen Befragung sollte dazu dienen, den Arbeitsalltag der Heimarbeiterinnen zu erforschen, ihre Beschäftigungsverhältnisse offen zu legen und ihre konkreten Wünsche nach Veränderung zu erfragen. Darüber hinaus wurde das Gemeinsame im Hinblick auf die unterschiedlichen Sektoren und Beschäftigungsverhältnisse gesucht. Nachdem sich über hundert Heimarbeiterinnen in sogenannten Empowerment-Kursen über ihre Lebens- und Arbeitsrealitäten austauschen konnten und ihre Ohnmacht bekämpften, beschlossen 25 von ihnen, eine Kooperative zu gründen, um die zuliefernde Mittelperson zu umgehen. Das verschaffte ihnen nicht nur größere Verhandlungsmacht gegenüber den AuftraggeberInnen und somit ein höheres Einkommen, sondern auch eine solidarische Form der gemeinsamen Produktion und der Einkommensgenerierung.

Die zusätzliche Eröffnung eines kleinen Zentrums in Tuzluçayır schuf für Heimarbeiterinnen einen wichtigen sozialen und politischen Raum außerhalb des Hauses. Durch dieses Zentrum können sie außerhalb gemeinsam arbeiten und voneinander lernen. Sie erlangen außerdem mehr Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit und errichten damit einen wichtigen Anlaufpunkt für Frauen im Viertel. Während des gesamten Organisierungsprozesses nahm neben der (Selbst-)Anerkennung als Arbeiterinnen die Stärkung des Selbstbewusstseins der Frauen eine zentrale Position ein. Die Erfahrung der Organisierung und des Widerstands verlieh den Frauen eine neue Macht – eine Macht zu handeln und persönliche und gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen.

Organisierung für das Recht auf Organisierung

Heimarbeiterinnen organisieren sich allerdings nicht nur auf lokaler, sondern auch auf nationaler Ebene. Traditionelle Gewerkschaften sind häufig nicht bereit, sich mit den Forderungen informeller Arbeiterinnen auseinanderzusetzen, da sie nicht dem Bild eines „echten“ formellen Arbeiters entsprechen. In der Türkei ist es informellen ArbeiterInnen darüber hinaus nicht erlaubt, einer Gewerkschaft beizutreten, wenn sie über keine Arbeitsplatzregistrierung und über keine Krankenversicherung verfügen. Damit schließt das Gesetz fünfzig Prozent der Bevölkerung vom Recht auf Organisierung aus. Zusätzlich arbeiten Heimarbeiterinnen in verschiedenen Sektoren und sind damit nicht einer einzigen Gewerkschaft zuordenbar. Daher entschieden die Heimarbeiterinnen, ihre eigene unabhängige Gewerkschaft „von unten“ mit dem Namen Ev Ek Sen zu gründen. Ungeachtet ihres Beschäftigungsverhältnisses – ob abhängig oder selbstständig – oder ihres Arbeitssektors können alle Heimarbeiterinnen dieser Gewerkschaft beitreten. Unter dem Slogan „Wir sind Arbeiterinnen. Wir wollen unsere Rechte“ kämpft die Gewerkschaft nun für das Recht auf Organisierung und die rechtliche Anerkennung von Heimarbeiterinnen als volle Arbeiterinnen mit sozialen und politischen Rechten. Kämpfe um höhere Löhne und ein reguläres Einkommen sind im Falle der Heimarbeit nicht nur Kämpfe um mehr Geld und Macht, sondern auch ein Kampf gegen Sexismus und das kapitalistische Verhältnis, welches der Lohn verkörpert. Durch diesen feministischen Arbeitskampf hinterfragen sie sowohl das türkische Gesetz als auch die vergeschlechtlichte Vorstellung von Arbeit und Organisierung.

Im Hinblick auf die unterschiedlichen Beschäftigungsarrangements und auch Forderungen ist es nicht möglich, eine einheitliche Strategie zur Organisierung von Heimarbeiterinnen zu entwickeln. Durch den Austausch von lokalen Organisationsstrategien, durch internationale Treffen und die Bildung von transnationalen Netzwerken kann allerdings aus verschiedenen Erfahrungen gelernt und transnationale Solidarität gegen neoliberale Politik gestrickt werden.

Katharina Kronhuber lebt in Wien und arbeitet derzeit als Leiharbeiterin. Sie hat Internationale Entwicklung und Politikwissenschaft in Wien und Ankara studiert und ist politische Aktivistin. Der Beitrag basiert auf ihrer Diplomarbeit „Knitting for EmPOWERment – The challenge of power relations through the organization of women homeworkers in Turkey“. Hier abrufbar: http://www.oeh.univie.ac.at/fileadmin/FilesQUEERFEM/DA_Kronhuber.pdf

Literatur:

HomeWorkers Worldwide (Infos über die globale Organisierung von HeimarbeiterInnen, u.a. Infos über Ev Ek Sen): http://www.homeworkersww.org.uk

Federici, Silvia (2012): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. Edition Assemblage, Reihe: Kitchen Politics, Band 1. Münster.

Boris, Eileen/ Prügl, Elisabeth (1996): Homeworkers in Global Perspective: Invisible No More. Routledge. New York, London.

Prügl, Elisabeth (1999): The Global Construction of Gender. Home-Based Work in the Political Economy of the 20th Century. Columbia University Press. New York.

 

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