Blüht der Jasmin noch?

In Tunis sind auf allen zentralen Plätzen Panzer, Nato-Draht und Soldaten zu sehen. Graffitis wie „Thank you facebook“ wurden an die Mauern gesprüht. In den Straßen und an den Café-Tischen wird über Politik diskutiert, und in der Stimmung liegt die Grundidee von Partizipation und Demokratie. Ein Geist des Aufbruchs ist spürbar.

In Tunis sind auf allen zentralen Plätzen Panzer, Nato-Draht und Soldaten zu sehen. Graffitis wie „Thank you facebook“ wurden an die Mauern gesprüht. In den Straßen und an den Café-Tischen wird über Politik diskutiert, und in der Stimmung liegt die Grundidee von Partizipation und Demokratie. Ein Geist des Aufbruchs ist spürbar. Es sind die Stimmen der Taxifahrer, der Familien zuhause, der Menschen auf der Straße, die sich darin einig sind: „Wir lassen uns die Revolution nicht nehmen. Es geht nie mehr zurück. Nie mehr Diktatur.“ Dennoch wird im gleichen Atemzug immer auch die Angst geäußert, dass islamistische Kräfte mächtig werden könnten. „Inshalla“, dass dies nicht passieren wird, hoffen sie.

Doch wer zieht die politischen Fäden? Wo sind die Frauen, die bei den Protesten in den ersten Reihen standen? Und wie leben die Menschen, die aus Libyen nach Tunesien geflüchtet sind?

Tunesien ist schön – ohne Ben Ali und seine 40 Räuber“ (Graffiti in Tunis)

Mitte Mai hatten Provokateure aus dem Umfeld des alten Staatsapparates immer wieder versucht, durch Gerüchte u. a. von Selbstmordattentätern in der Bevölkerung das Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Alltag zu schüren. Dann sorgte ein Videointerview des im Februar zurückgetretenen Innenministers, Farhat Rajhi, das kürzlich von einer Bloggerin auf Facebook veröffentlicht wurde, für Aufsehen: „Wenn die Islamisten die Wahlen gewinnen, werden wir ein Militärregime bekommen“, erklärte Rajhi darin und meinte damit, dass es noch genug alte Kräfte gebe, die die irdische Machtausübung der Ultragläubigen zu verhindern wüssten. Hunderte junge Menschen reagierten darauf erneut mit tagelangen Protesten gegen die Übergangsregierung. Die Polizei schlug brutal zurück, und zum ersten Mal seit dem Sturz Ben Alis wurde wieder eine nächtliche Ausgangssperre in Tunis und anderen größeren Orten wie Sfax, Kairouan und Sousse verhängt.

Wählen gehen, wenn Ferien sind?

Tunesien besitzt seit dem 17. Januar, nachdem Zine el-Abidine Ben Ali verjagt wurde, eine „Regierung der nationalen Einheit“, die sich aus zwei politischen Instanzen zusammensetzt. Zum einen die Übergangsregierung, bestehend aus unbekannten Technokraten, die überwiegend vom alten Ministerpräsidenten Raschid Ganouchi ernannt wurden. Zum anderen die „Hohe Instanz für die Verwirklichung der Revolution, der politischen Reform und des demokratischen Übergangs“, der unzählige Parteien, Vereine, Gewerkschaften und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens angehören. In dieser sind außerdem 13 Jugendliche aus verschiedenen Regionen des Landes Mitglied, um die Forderungen der Jugend zu vertreten. Die „Hohe Instanz“ soll politische Transformationen und Reformen anstoßen, während es die Aufgabe der Übergangsregierung ist, Ruhe und Ordnung walten zu lassen und trotz wirtschaftlicher Krise Tunesiens Versorgung sicherzustellen.

Inwieweit wer welche Macht ausübt und welche Entscheidungen trifft, ist umstritten. Diese Frage wurde auch Ende Mai im Rahmen einer Debatte um eine Verschiebung der verfassungsgebenden Wahlen heiß diskutiert. Der auf den 24. Juli angesetzte Termin wurde durch einen Vorschlag, die Wahlen auf Oktober zu verlegen, infrage gestellt. Ziel dieser Wahlen ist es, ein Parlament aufzustellen, das eine verfassungsgebende Versammlung verkörpert. Dessen wichtigste Aufgabe wird die Ausarbeitung einer neuen Verfassung sowie die Organisation der nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahl sein. Die Meinungen der Tunesier_innen sind vielfältig. Ein baldiger Termin würde reaktionären, organisierten und finanziell gut ausgestatteten Strömungen wie Splitterformationen des alten Regimes oder der islamistischen Partei Ennahda zugutekommen, ist eine verbreitete Befürchtung. Andere wiederum sind der Meinung, dass die gegenwärtige Übergangsphase sehr zerbrechlich sei und daher schnell beendet werden müsse, um in eine neue, selbst gewählte Form überführt zu werden. Dann gibt es Stimmen, die argumentieren, dass diese Politik der Transformation vorgebe, nicht handeln zu können, aber tatsächlich weitreichende Entscheidungen treffe und so schnell wie möglich ihren Platz zu räumen habe.

Schließlich fiel die Entscheidung, es beim alten Termin zu belassen. Dieser liegt in den Ferien. „Wer diszipliniert ist, wird wählen gehen.“ Bemerkenswert ist jetzt schon, dass für die Wahllisten aller Parteien die Parität nach Geschlecht durchgesetzt wurde. Das bedeutet, dass jede zweite Person weiblich ist.

Die tunesischen Frauen sind frei und werden es bleiben“ (Graffiti in Tunis)

Im arabischen Raum gilt Tunesien bezüglich der Gleichstellung von Frauen und Männern als das progressivste Land. Als Tunesien 1956 unabhängig wurde, verankerte der autokratische Herrscher Habib Bourgiba weitreichende Frauenrechte wie das Verbot der Polygamie und der Verstoßung, das Wahlrecht und Zugang zu Bildung für Frauen sowie eine neues Scheidungsgesetz. Darüber hinaus wurde Familienplanung eingeführt, und ab 1963 war Abtreibung unter bestimmten Indikatoren erlaubt, bis diese 1973 schließlich absolut straffrei wurde.

Die Revolution wurde durch viele junge Bloggerinnen angestoßen, und bei den Protesten gegen Ben Ali und der Kasbah waren viele Frauen in den ersten Reihen. Nach der Auflösung einer Demonstration am 14. Januar waren viele Demonstrant_innen in naheliegende Häuser geflohen. Die geschlechtsspezifische Gewalt spitzte sich drastisch zu, als die Miliz der alten Regierung diese Gebäude stürmte und viele Mädchen und Frauen missbrauchte und vergewaltigte.

„Daraufhin haben wir unsere Türen immer offen gehalten“, berichtet Halima Juini von der „Vereinigung der Demokratischen Tunesischen Frauen“ (ATFD). Als schützender Rückzugsort und auch, um Informationen auszutauschen. Ihre Organisation unterstützt Frauen, die Gewalt und Repression erfahren haben, und kämpft gegen weibliche Prekarität sowie andere Formen der Diskriminierung. Juini erzählt von einer Dynamik von Frauenkämpfen, die es seit dem Jahr 2000 gegeben hat, wie z. B. Besetzungen und sit-ins gegen Fabrikschließungen von Textilarbeiterinnen, die medial völlig unterschlagen wurde. Juini ist stolz darauf, gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen, die nicht nur in der Hauptstadt, sondern in allen Regionen aktiv sind, die paritätische Regelung durchgesetzt zu haben. „Das ist schon einiges im Vergleich zu unseren Nachbarländern, aber jetzt werden wir mit unseren Forderungen noch viel weiter gehen“, meint sie und zählt diese auf. Für die Verfassung fordert die ATFD insbesondere die collegualité – Gleichstellung zwischen Männern und Frauen, ein Gesetz gegen Vergewaltigung und die Anerkennung der internationalen Konvention gegen Diskriminierung von Frauen. Außerdem kämpfen sie für sexuelle Rechte von Lesben und Schwulen und für eine Änderung des Strafrechts bezüglich sexueller Orientierung.

Wir wollen weg hier! Europa muss helfen“ (Schild bei einer Demonstration)

Während die begonnene Revolution die tunesische Bevölkerung permanent zu ihrer Verteidigung herausfordert, fahren jedes Wochenende unzählige Lastwagen der Organisation „Benevolus“ in den Süden. Sie transportieren private Spenden, die in der Hauptstadt gesammelt wurden, Richtung libysche Grenze. Dort sind seit Ausbruch der Krise im Nachbarland über 100.000 Flüchtlinge angekommen, wobei Tunesien seine Grenze immer offen hielt. Viele der ankommenden Menschen wurden dabei von der Lokalbevölkerung immer wieder empfangen, versorgt und zum Teil privat untergebracht. „Es war wie ein Fest hier auf den Straßen“, erzählt Houceine Betthaieb, der als Lehrer, Gewerkschafter und neuerdings auch als Mitglied des Revolutionskomitees in der südtunesischen Stadt Ben Guardane arbeitet. Diese großzügige Gastfreundschaft kennt aber durchaus strukturelle Separierung. Unterteilt wird überwiegend nach gemeinsamer Sprache, Religion – kurz gesagt Kultur. Die Konsequenz daraus ist, dass die arabisch sprechenden, muslimischen Teile der Libyenflüchtlinge im Ort in Häusern leben und in Kontakt mit der Lokalbevölkerung sind.

Und dann gibt es noch die „Vergessenen“: 4.000 bis 5.000 vor allem subsaharische und ostafrikanische Flüchtlinge leben in einem von vier Camps, das vom UN-Flüchtlingskomitee (UNHCR), dem Rotem Kreuz und dem Rotem Halbmond eingerichtet wurde. Rund 3.800 der Zeltstadtbewohner_innen sind als Flüchtlinge oder Asylsuchende registriert, erklärt der UNHCR-Pressesprecher Firas Kayal, der das, was diesen Menschen passiert ist, als „zweite Vertreibung“ bezeichnet. Im Camp Choucha, das als temporärer Notaufenthalt mit improvisierter und unzureichender Infrastruktur gedacht war, stecken viele Flüchtlinge seit Monaten fest. Manche wurden, bevor sie hier herkamen, aus gekenterten Booten auf dem Meer gerettet. Als mehrere Flüchtlinge bei einem Brand im Camp starben, gab es spontane Proteste und eine Straßenblockade. Das tunesische Militär schoss mit Tränengas, und eine Gruppe aus der Lokalbevölkerung attackierte das Lager. Mindestens zwei Flüchtlinge wurden erschlagen, viele wurden schwer verletzt. In Länder wie Somalia, Sudan, Eritrea oder auch der Elfenbeinküste können sie nicht wieder migrieren. „Vielleicht ist es besser, zurück nach Libyen zu gehen.“ Viele aus dem Camp haben sich bereits wieder auf den Weg gemacht.

Arabellischer Sommer in Sicht?

Die RCD, die alte Regierungspartei Partei Ben Alis, wurde zwar Anfang März verboten, und die zentralen Männer innerhalb der Polizei wurden ausgetauscht – manchmal lediglich an andere Orte versetzt –, aber der Apparat steht noch. Überwachung und Gewalt gegen die Presse finden – wenn auch in anderer Weise – weiterhin statt. Bisher hat es die Regierung nicht geschafft, die dringend notwendigen Sozialprogramme aufzustellen, um die tunesische Bevölkerung ökonomisch abzusichern.

Auf der anderen Seite des Mittelmeers begrüßt die Europäische Union den durch den arabischen Frühling ausgelösten Wandel mit leeren Worthülsen. Inzwischen wird die tunesische Revolution im internationalen Diskurs als Krise bezeichnet. Die EU legt Tunesien Papiere über neue, gemeinsame Strategien zu mediterraner Migration vor, in denen eine Kontinuität der Exterritorialisierung der Grenzen sowie eine postkoloniale Instrumentalisierung der nordafrikanischen Länder unverkennbar sind. Notwendig aber wäre eine tatsächliche Unterstützung der progressiven Kräfte im Land. Es gibt eine entstehende Vielfalt an sozial-politischen Bewegungen, die um neue Wege und um Sichtbarkeit kämpfen. Was gebraucht wird, ist Solidarität und Raum für diesen Prozess der Auseinandersetzung und des Ringens um neue Formen von Identität.


Alice Rombach arbeitet schwerpunktmäßig zu den Themen EU-Grenzregime, Migration und Gender. Sie ist im Netzwerk Afrique-Europe-Interact aktiv und war Anfang des Jahres in Mali und Senegal. Im Mai war sie mit einer Gruppe aus mehreren antirassistischen Netzwerken in Tunesien und setzte sich dort mit Revolution, Migration und deren Zusammenwirken auseinander.

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