Das ist jene Art von Wissen, die man erst im Nachhinein erwirbt ...

Zenon Neumark hat dieses Buch geschrieben, um den jüdischen Widerstand festzuhalten, wie ihn (überlebende) Widerstandskämpfer_innen selbst erlebt haben.

Am letzten Oneg Schabat sagte uns Dolek Libeskind: „Dies ist der letzte Abend, den wir zusammen verbringen. Wir sind zum Tode verurteilt, doch müssen wir drei Zeilen jüdische Geschichte schreiben: dass die jüdische Jugend aufgestanden ist und für die Würde des Volkes gekämpft hat.“ (Yehuda Poldek Maimon)1

Die Geschichte spielt sich im Zickzack der Notwendigkeiten ab: Wem ist zu vertrauen, wer ist solidarisch, wer verrät? Welche Nazis sind zu gebrauchen, weil sie im Sinne ihrer individuellen Gier Deckung geben? Und sie ist voll von Lernprozessen: Wo versteckt mensch Handgranaten? (im Ofen) Was meinen die anderen (die Nazis, die katholischen Pol_innen und Wiener_innen), wie „semitisch“ aussieht? Und was ist ein unverdächtiger Gesichtsausdruck?

„Ich habe den Teil meines Lebens notiert, der interessant ist und wichtig“, kommentiert Neumark seine Widerstandsbiografie, die 2009 in deutschsprachiger Übersetzung unter dem Titel „Im Freien verborgen“ erschienen ist. Von den überlebenden Genoss_innen, die „ihr ganzes Leben interessant genug zum Publizieren finden“, hält er nicht allzu viel. Wir wiederum finden nicht nur die Geschichte seiner Arbeit im Widerstand relevant, sondern auch, wie und dass sie heute erzählt wird. Erinnern ist nicht nur eine Funktion der Großhirnrinde, sondern harte Arbeit. Das Resultat von gedenkpolitischen Kämpfen, die von Akteur_innen wie Neumark beständig geführt werden.

Zenon Neumark hat dieses Buch geschrieben, um den jüdischen Widerstand festzuhalten, wie ihn (überlebende) Widerstandskämpfer_innen selbst erlebt haben – Inglorious Basterds-Versionen der Geschichts(um)schreibung ärgern ihn: „Creative non-fiction, was soll das sein? Entweder etwas ist creative oder es ist non-fiction“, sagt er im Gespräch, zu dem wir ihn im März 2010 in Los Angeles treffen.

Widerstand im Ghetto von Tomaszów Mazowiecki
Neumark wird 1924 in Łódź geboren und erlebt als 17-Jähriger den Überfall und Kriegsbeginn der Nazis in Polen. Ins Ghetto von Tomaszów Mazowiecki gezwungen, wird er zur Jugendwiderstandszelle Akiba eingeladen, deren Ziel es ist, aus dem Ghetto zu fliehen und sich den Partisan_innen anzuschließen oder mit katholisch-polnischen Papieren „im Freien verborgen“ zu leben und von dort aus den Widerstand zu unterstützen. „Passiver Widerstand wie etwa langsames oder nachlässiges Arbeiten war natürlich auch eine Alternative, aber das wurde ohnedies weithin praktiziert. Andere vorgeschlagene Maßnahmen wie beispielsweise bewaffneter Widerstand waren mehr Ausdruck unserer jugendlichen Überzeugung als realistische Möglichkeiten. (...) Wir hatten keine Waffen und konnten auch keine auftreiben. Unsere einzige Stärke war unser Wille, etwas zu tun.“ (51) Die ersten beiden, die ausgeschickt werden, um Kontakte zu knüpfen – Tusia Fuchs und Halinka Rubinek – kommen nach einigen Malen nicht mehr zurück. Erst als ein polnischer Historiker eine Übersetzung des Buches zu lesen bekommt, stellt sich – fast 70 Jahre später – für Zenon Neumark heraus, was mit Tusia und Halinka tatsächlich passiert ist: Sie waren am Anschlag auf das von hochrangigen SS-Offizieren frequentierte Krakauer Café Cyganeria am 23. Dezember 1942 beteiligt, bei dem zwölf deutsche Offiziere getötet wurden. Tusia wurde vor Ort ermordet, Halinka wenig später hingerichtet. Sie sind also nicht „einfach verschwunden“, wie Neumark in seinem Buch noch vermutet, sondern haben sich dem bewaffneten Widerstand erfolgreich angeschlossen – ein wichtiges Detail, das das Puzzle der Geschichte der kleinen Zelle Akiba Jahrzehnte später zu vervollständigen hilft.

Über Warschau nach Wien
Im Herbst 1942 beginnen im Ghetto Deportationen nach Treblinka. Von den rund 13.000 Ghettobewohner_innen bleiben nur 800 zurück, die als Zwangsarbeiter_innen noch kurze Zeit vor der Ermordung geschützt sind. Ende Mai 1943, als die Repression nach dem Warschauer Ghettoaufstand noch einmal erhöht wird, gelingt Neumark die Flucht. Er kommt bei Bekannten unter, lernt sich zu organisieren, stillzuhalten, äußerlich anzupassen und dem Widerstand zuzuarbeiten. „Und doch waren diese Zeit und diese Arbeit die aufregendste und wichtigste in meinem ganzen Leben; weder vorher noch nachher habe ich etwas Vergleichbares gefühlt und erlebt.“ (136).

Zeitweise arbeitet Neumark reichlich naiv in drei verschiedenen Widerstandsgruppen, von links-jüdisch bis hin zu – quasi irrtümlich – rechts-katholisch, bis er sich nach dem Warschauer Aufstand im August 1944 aus Angst vor Deportationen in ein Todeslager in eine Gruppe von Druckern hinein reklamiert, die in das Wiener Zwangsarbeitslager in der Lobau gebracht wird. Von dort wiederum verhilft ihm ein Nazi zum Ausbruch, der ihn als – mittlerweile recht gut ausgebildeter – Elektriker in seinem eigenen Betrieb braucht. So erlebt Neumark, unter der unwissentlichen Protektion eines Wiener Faschisten und in der solidarischen Unterstützung der sozialistischen Familie seiner Freundin Franzi, das Ende des Krieges. („Franzi? Die hab’ ich nie vergessen, das war die Liebe meines Lebens.“ Daher auch die Namensänderung im Buch, damit niemand gekränkt ist. Weil: Nicht alle Leute sind so freigiebig mit der Liebe, und die Eifersucht hält oft mal 60 Jahre und auch länger.) Und zieht nach einigen Umwegen und auf Verlangen seines Onkels aus dieser nachfaschistischen Gesellschaft weg in die USA.

Wir gratulieren zum 86. Geburtstag!

1 Aus: Zeugnisse des Holocaust. Gedenken in Yad Vashem. Yad Vashem 2005: 176. Yehuda Maimon war Teil der im Text erwähnten Gruppe, die den Anschlag auf das Café Cyganeria durchführte.

Literatur
Neumark, Zenon (2009): Im Freien verborgen. Ein jüdischer Flüchtling überlebt die Nazizeit in Warschau und Wien. Wien: Praesens.

Lisa Bolyos und Katharina Morawek sind Teil des Zusammenhangs „Plattform Geschichtspolitik“, in und neben dem sie zu Fragen der Gedenkpolitik forschen und intervenieren. Im Rahmen eines Filmprojekts waren sie im Februar und März 2010 in Kalifornien, wo sie Zenon Neumark mehrmals zum Gespräch trafen.

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