Jenseits von Gut und Böse: Ein Schiff gestrandet an der Peripherie

Ist nicht am Ende gerade der Zusammenbruch der Illusion über das tadellose Funktionieren des kapitalistischen Marktes der Geburtsort der heutigen radikalen rechten Politik in Kroatien?

Boris Postnikov

Jenseits von Gut und Böse: Ein Schiff gestrandet an der Peripherie

 

„Die Symbolik spiegelt sich darin, dass das Gute ein weiteres Mal über das Böse gesiegt hat, denn die Entscheidung über die Zusage der Mittel fiel am 10. April“, rühmte sich der Bürgermeister von Rijeka Vojko Obersnel vor der kroatischen Öffentlichkeit, nachdem dem großen Projekt zum Wiederaufbau des städtischen Kulturerbes beinahe 10 Millionen Euro aus dem Fonds der Europäischen Union zugeteilt worden waren. Seine Botschaft war eindeutig: Der 10. April 1941 ist nämlich das Datum der Gründung des Unabhängigen Staates Kroatien (NDH-Staat), ein Satellitenstaat pronazistischer Schreckensherrschaft, welchen die Partisanen unter dem Kommando von Josip Broz Tito vier Jahre später besiegt hatten. Die radikale postfaschistische Rechte feiert diesen Tag versteckt bis heute als ihren größten Feiertag. Dieses Jahr allerdings wurde ihre Feier durch die Förderzusage der EU vereitelt, hat die Stadt doch seit jeher den Status einer „freien Zone“ multikultureller Werte, Offenheit und Toleranz, während das Umfeld von einer  konservativen nationalen Politik geprägt ist. Für die kroatische Rechte stellte dies eine veritable Provokation dar: Nicht nur, dass der Verkünder der Botschaft ein Bürgermeister aus den Reihen der sozialdemokratischen Partei, der rechtmäßigen Nachfolgerin der einstigen kommunistischen Partei war, sondern auch weil die Bewilligung des Projektes als der erste konkrete Schritt zur Vorbereitung Rijekas zur „Europäischen Kulturhauptstadt“ 2020 und als Etablierung ihres progressiven Wegs mit den Instrumenten der europäischen Kulturpolitik gesehen werden kann. Zudem bedeutet die Subventionszusage nicht zuletzt deshalb einen Triumph für den Bürgermeister, da damit die Rückkehr und Verwandlung von Titos einstigem Lieblingsschiff „Galeb“ (Möwe), einer 119 Meter langen Jacht, auf der der Präsident auf Lebenszeit der SFRJ (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) führende Staatsoberhäupter und Berühmtheiten empfing, in eine Touristenattraktion verwirklicht werden kann.

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Die Diskussionen rund um die baldige Rückkehr der „Möwe“ nehmen ein größeres Ausmaß an, als es der unmittelbare Anlass erwarten ließe – spiegelt sich darin doch die konfliktreiche Vergangenheit Kroatiens wider. Diese ist bestimmt von einer schwarz-weiß-malerischen Sichtweise, die die Gegenüberstellung der beiden Pole „harsche Rechte, Geschichtsrevisionismus und nationalistischer Isolationismus“ vs. „progressive Linke, entspannte Haltung gegenüber der eigenen kommunistischen Vergangenheit und proeuropäische Orientierung“ betreibt und die auch den öffentlichen Diskurs rund um den kroatischen Weg in den Kapitalismus und die 2013 erfolgte Aufnahme in die Europäische Union geprägt hat. Die Einteilung in „rückschrittliche“ Nationalisten und „fortschrittliche“ proeuropäische Kräfte dominiert den öffentlichen Diskurses bis zu dem Maße, dass, nachdem der Eintritt Kroatiens in die Union unerwartet in einen raschen Aufschwung der heimischen radikalen Rechten und ihrem Vordringen in den politischen Mainstream resultierte, es dem Großteil der medialen Berichterstatter für solch eine Entwicklung der Geschehnisse nicht gelang, eine fantasievollere Erklärung zu finden als die des erneuten Variierens der alten autokolonialen Tropen, gemäß welchen die kroatischen BürgerInnen angesichts des Beitrittes in die Union nur heuchelten, zivilisiert und tolerant zu sein, um nach Beendigung des Beitrittsprozesses erneut ihr „wahres“, ausschließlich chauvinistisches Gesicht zu zeigen. Jedoch, so wie alle binären Erklärungsversuche, sind auch diese zu einfach, um die komplexe Dynamik der heutigen europäischen Peripherie fassen zu können. Durch die Reduktion der Wirklichkeit auf den abstrakten Konflikt zwischen „gut“ und „böse“ bleiben die dahinterliegenden wahren politischen Motive unsichtbar.


Die „Möwe“ trägt auf ihrem Deck die zweifelsohne ungeheure symbolische Last der kroatischen und jugoslawischen neueren Geschichte. Das Schiff wurde noch 1938 im faschistischen Italien gebaut: Am Anfang diente es dem kommerziellen Transport von tropischem Obst, mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde es von Mussolinis Kriegsmarine übernommen und 1943, nach der Kapitulation Italiens, wurde es der deutschen nationalsozialistischen Flotte angeschlossen. Schon im folgenden Jahr versenkte es die alliierte Luftwaffe genau im Hafen von Rijeka, von wo es 1948 die Jugoslawische Kriegsmarine bergen und renovieren ließ. Ab Anfang der 1950er diente es schließlich als Titos schwimmende Residenz: Luxuriös ausgestattet, wurde es zum Schauplatz zahlreicher internationaler Besuche, darunter politische Größen wie Winston Churchill, Jawaharlal Nehru und Nikita Chruschtschow, aber auch Stars wie Sofia Loren, Elizabeth Taylor und Richard Burton. An Bord der „Möwe“ wurden zwischenstaatliche Beziehungen geformt und zahlreiche Feste gefeiert. Die Fotografien des Marschalls in weißer Admiraluniform wurden  unverzichtbare Bestandteile der Ikonografie der jugoslawischen sozialistischen Ordnung. Anfang der 1990er Jahre, zur Zeit des brutalen Zerfalls der SFRJ, wurde die Jacht in den montenegrinischen Hafen überführt, auf das Territorium der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien, die mit Kroatien im Krieg war. Die montenegrinische Regierung verkaufte sie bald dem griechischen Schiffsmogul, Multimillionär John Paul Papanicolao, der sie danach nach Rijeka zurückbrachte, um sie erneut renovieren zu lassen. Der Geschäftsmann geriet jedoch bald in finanzielle Probleme, weshalb er dem Schiff heimlich eine Reihe historischer Wertgegenstände entnahm und es mit ca. 100.000 Dollar Schulden für Hafengebühren und Erhaltung im Hafen von Rijeka hinterließ. Mehr als zehn Jahre verfiel es ebendort, bis nun die europäische Finanzspritze eine Reanimation ermöglicht.

 

Die turbulente Odyssee der „Möwe“ bietet klarerweise eine Vielzahl symbolischer Motive für unterschiedliche Konzepte der Museumsrealisierung. Beispielsweise würde sich ein Museumsprojekt rund um die Figur Tito anbieten – immerhin ist das Schiff in der öffentlichen Wahrnehmung in erster Linie an den ehemaligen Präsidenten gebunden. Die Auflistung bekannter Gäste verdeutlicht zudem die Ambivalenz der öffentlichen Person Tito: einerseits ein international einflussreicher Staatsmann und andererseits ein Lebemann, der den Kontakt zu Hollywood-Stars gepflegt hat. Die Position des nie in Frage gestellten jugoslawischen Führers wurde auch nach seinem Ableben nicht nachbesetzt, symbolisch dafür blieb auch Brosz privates Zimmer auf dem Schiff jahrelang nach seinem Tod verschlossen. 

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Der politisch potentere Zugang zur Museumsrealisierung wäre es, die Symbolik des Schiffes durch Parallelen mit der Geschichte der SFRJ und seine einzigartige internationale Rolle nach dem Zweiten Weltkrieg hervorzuheben: Im Jahr 1948, genau als die versenkte „Möwe“ aus dem rijekischen Hafen aufgetaucht und der Renovierung übergeben wurde, hat die jugoslawische Führung in einer bedeutenden Entscheidung das Bündnis mit Stalin gebrochen, damit den Gang in den Ostblock ausgeschlagen und stattdessen den Weg der relativen Unabhängigkeit in der ideologisch zweigeteilten Welt gewählt. Die Namen Churchill und Chruschtschow erhalten in diesem Kontext auf einmal eine andere Symbolik und Titos Reise entlang der afrikanischen Küste 1961, in deren Rahmen der erste Kongress blockfreier Länder vorbereitet wurde, unterstreicht diese zusätzlich.


Das Konzept, für das sich die zukünftige europäische Kulturhauptstadt entschieden hat – und die Fonds der Union haben dieses finanziell abgesegnet – hat allerdings nicht viel mit den spezifischen Eigenheiten der jugoslawischen sozialistischen Geschichte, an die „die Möwe“ ikonisch gebunden ist, zu tun – ganz im Gegenteil, sie gründet sich auf ihrer Unterdrückung und Nivellierung. Lapidar hat, unmittelbar nach Obersnels Proklamation des Sieges des „Guten über das Böse“, der Kulturvorsitzende von Rijeka Ivan Šarar erklärt: „Das wird weder ausschließlich ein Museum von Titos ‚Möwe‘ werden, noch ein Museum, das unkritisch Titos Ära und sein Regime glorifiziert, sondern ein Museum, das die drei Totalitarismen, in deren Dienst dieses berühmte Schiff stand, hinterfragen wird.“ Mit anderen Worten, aus der beinahe 80-jährigen Geschichte der „Möwe“ wurden selektiv jene fünf Jahre herausgenommen, in denen das Schiff zuerst unter italienischer und dann unter deutscher Kriegsflagge segelte, um das faschistische und nationalsozialistische Regime auf eine gleiche metaphorische Ebene mit dem sozialistischen jugoslawischen System zu stellen. Diese Geschichtsdeutung dient der Umdeutung der blockfreien jugoslawischen Politik, um sie unter dem Label des kommunistischen Totalitarismus zusammenzufassen. Diese revisionistische Pirouette verwundert nur auf den ersten Blick: Die Resolution des Europäischen Rates 1481 (2006) über die Notwendigkeit einer internationalen Verurteilung der Verbrechen kommunistischer totalitärer Regime ist bereits elf Jahre Teil eines europäischen Rechtskonsenses, doch fungiert das implizite Gleichsetzen von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus heute in einem großen Teil der osteuropäischen Staaten als Ausgangspunkt verspäteter antikommunistischer Hysterie. Kroatien ist hier keine Ausnahme: Bald nach dem Beitritt zur Union begann die radikale rechte Politik ihre frontale Abrechnung mit den phantomhaften „Jugoslawen“ und „Kommunisten“. Um die öffentliche Nicht-Akzeptanz des Versuches einer Neubewertung des Quisling- Projektes „NDH Staat“ zu kompensieren, holte die Rechte zu einem Gegenschlag auf die Geschichte des jugoslawischen Sozialismus unter der Führung der Kommunistischen Partei aus. Und eben deshalb sind die populären Deutungen, die in diesem Revival der radikalen Rechten eine Enthüllung des „wahren“ rückschrittlichen Gesichts Kroatiens sehen – nachdem der Staat, eine Liberalisierung der Gesellschaft vortäuschend, es irgendwie geschafft hat, sich in die EU einzuschmuggeln – in Wirklichkeit vollkommen verfehlt: Weit davon entfernt „antieuropäisch“ zu sein, legitimieren sich die neuen rechten Tendenzen geradezu durch die Berufung auf die Amtsdokumente der Union. Insofern ist die Transformation der „Möwe“ ein Projekt der verschwiegenen Verurteilung der sozialistischen Vergangenheit und stellt neben einem Musterbeispiel für Depolitisierung durch die Umwandlung „unpassender“ Geschichte in eine kommerzielle Touristenattraktion vor allem eine neue symbolische Bestätigung  für die Integration der europäischen Politik  in die Vorgehensweise der radikalen Rechten in Kroatien dar. Wenn es in der „links-orientiertesten“ kroatischen Stadt verwirklicht wird, wenn es das angesehene Mitglied der Partei feiert, die formal der Tradition der Kommunistischen Partei folgt und wenn er es dabei als Sieg des „Guten“ über das „Böse“ begreift, dann ist dieses Projekt am Ende nur ein sicheres Anzeichen für die institutionelle Normalisierung einer revisionistischen Politik.

Genau deshalb lohnt es sich, die bevorstehende Museumsrealisierung der „Möwe“ mit besonderem Augenmerk auf ihre Selbstzensur zu lesen, ausgehend von der letzten, auffällig verschwiegenen Episode der komplizierten Geschichte des Schiffes. Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus werden, wie wir gesehen haben, thematisiert. Das, was jedoch fehlt, ist der Übergang in den Kapitalismus. Denn auf die gleiche nonchalante Art, mit der die fünf Kriegsjahre zu einer Metapher für zwei totalitäre Systeme reduziert werden und der komplexe sozialistische Weg Jugoslawiens als ein drittes gilt, könnte sich das kurz dauernde Abenteuer des griechischen Schiffsinhabers in eine relativ präzise Skizze des aktuellen Systems übertragen lassen. Ist nicht Papanicolaos Schiffskauf ein passendes Beispiel ungeplanter Privatisierung des gesellschaftlichen Eigentums nach dem Niedergang des Sozialismus? Ist nicht der unerwartete finanzielle Absturz des Geschäftsmannes am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Art bizarrer Vorspann für die baldige große ökonomische Krise? Ist nicht die Abwälzung des Schuldenhaufens auf die öffentliche Hand das, was passiert ist, nachdem die Krise ausgebrochen ist?

 

Und ist nicht am Ende gerade der Zusammenbruch der Illusion über das tadellose Funktionieren des kapitalistischen Marktes der Geburtsort der heutigen radikalen rechten Politik in Kroatien? Denn das was sich auf zweiter Ebene des großen symbolischen Kampfes für die kollektive Verurteilung des Kommunismus entwickelt, ist zugleich ein Löschen der Erinnerung an ganz konkrete Errungenschaften des jugoslawischen Sozialismus: öffentlich finanzierte Bildung und Krankenversicherung, unvergleichbar leistbares Wohnen, ein demokratisches Modell der Arbeiterselbstverwaltung in der Ökonomie und alle anderen Komponenten eines gesellschaftlichen Systems, die trotz des eigenen geschichtlichen Untergangs zumindest einen Ausgangspunkt für Kritik des aktuellen Systems und eine Projektion seiner Alternativen bieten.  Aber das ist, vielleicht, der Preis der Eintrittskarte, den wir am Eingang ins neue schwimmende Museum Rijekas werden zahlen müssen: Das dreiköpfige totalitäre Ungeheuer Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus wird einem faszinierten Publikum vorgeführt werden, nur damit die Erzählung über den heutigen Kapitalismus weit über Bord gestoßen werden kann.

Boris Postnikov ist Publizist, Essayist, Literaturkritiker und Redakteur der Zeitung „Novosti“ (Neuigkeiten). Er lebt in Zagreb.

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