Von Schmelztiegelängsten und Supermachtträumen. Das kulturpolitische Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Zum einen will die EU den neuen Status ihrer Kreativindustrien als „Wachstumsmotor“ und „Jobmaschine“ weiter untermauern. Ferner soll die 20 Jahre alte europäische Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ von Grund auf überholt und auf alle audiovisuellen Medien erweitert werden.

Deutschlands Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) hat am 30. Januar vor dem Ausschuss für Kultur und Bildung des EU-Parlaments die kulturpolitischen Ziele der deutschen Ratspräsidentschaft dargelegt (1). Dabei zeichnen sich im Wesentlichen zwei Schwerpunkte ab. Zum einen will die EU den neuen Status ihrer Kreativindustrien als „Wachstumsmotor“ und „Jobmaschine“ weiter untermauern. Ferner soll die 20 Jahre alte europäische Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ von Grund auf überholt und auf alle audiovisuellen Medien erweitert werden.

Product Placement ohne Grenzen

Herzstück der Richtlinie ist die gezielte Produktplatzierung als Finanzierungsinstrument. Damit wird Product Placement mit wenigen Einschränkungen für den größten Teil des Fernsehprogramms erlaubt. Unangetastet bleiben lediglich das Kinderprogramm, Dokumentationen oder Nachrichtensendungen. Zwar ist EU-Medienkommissarin Viviane Reding mit ihrem Anliegen gescheitert, den Sendern bei Produktplatzierungen keinerlei Auflagen zu machen, doch kann die Revision von „Fernsehen ohne Grenzen“ trotzdem als erster Schritt zu einem Rechtsrahmen gewertet werden, in dem die Trennlinie von Werbung und Programm immer weiter verwischt wird. Damit steht zu befürchten, dass auch in der EU gute Drehbücher künftig solche sind, in denen kaum auffällt, wenn dem Zuschauer etwas verkauft wird und DrehbuchschreiberInnen zu besseren WerbetexterInnen werden. Neumann dagegen beschwichtigt und zeigt sich davon überzeugt, dass die Vielfalt der Kulturen und Meinungen in Europa mit der Richtlinie weiter gefestigt wird.

Vom Opfer des GATS zur kulturellen Supermacht

Die Notwendigkeit für die Flexibilisierung von Werbebeschränkungen wird einmal mehr legitimiert durch Schreckgespenster aus Ost und West. Europas Anbieter, so heißt es, dürften im Wettbewerb mit China, Indien und den USA nicht benachteiligt werden. Es gälte, die expandierende Kulturwirtschaft abzusichern, damit Europa seine Stellung als, wie Kulturkommissar Jan Figel es kürzlich ausdrückte, kulturelle „Supermacht“ nicht verliert. Setzt man dieses Denken neben die hysterischen Statements der letzten Jahre, mit denen der „kulturelle Genozid“ in Folge der Regelungen des Dienstleistungsabkommen GATS heraufbeschworen wurde, kann man sich nur verwundert die Augen reiben. Während die EU seit zwei Jahren den Schutz der kulturellen Vielfalt vor einer schier übermächtigen US-Unterhaltungsindustrie fordert („Kultur ist keine Dienstleistung wie jede andere!“ – sie erinnern sich?), sieht sie sich nun plötzlich als „Supermacht“ im globalen kulturellen Wettrüsten. Kreativindustrien werden in einer Liga mit traditionellen Branchen wie Chemie, Auto- und Maschinenbau verortet und als die Wirtschaftszweige gepriesen, die in Europa die größten Zuwachsraten haben. Gleichzeitig wird die Sprache der Welthandelsorganisation (WTO) adaptiert, gegen die man sich noch vor kurzem vehement wehrte; wird Deregulierung gefordert, um im globalen Wettbewerb der Kulturen nicht benachteiligt zu werden. So betrachtet wird aus Neumanns Aussage, dass die europäische Wirtschaft ein kulturelles Fundament benötigt, schnell der Wunsch, dass die europäische Kulturwirtschaft mit ihrem jährlichen Umsatz von 560 Milliarden Euro gar zum ökonomischen Fundament der EU aufsteigt.

Die Angst vor dem Auflösen nationaler Eigenheiten

Neben der Betrachtung von Kultur unter ökonomischen Vorzeichen steht die erklärte Absicht der deutschen Ratspräsidentschaft, die Debatte um das Leitbild der kulturellen Vielfalt stärker in die europäische Öffentlichkeit hineinzutragen. So sollen zum Beispiel alle Mitgliedstaaten der EU dem UNESCO-Übereinkommen zur kulturellen Vielfalt beitreten (2). Was dabei unter kultureller Vielfalt zu Verstehen ist, machte Neumann mit einem Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl im Endteil seiner Rede deutlich, denn Europa, so heißt es dort, „hat nicht das Ziel, nationale Eigenheiten in einem Melting Pot aufzulösen. Das Gegenteil ist der Fall.“ Im christdemokratischen Denken hat diese Angst vor Schmelztiegeln Tradition – ungeachtet dessen, ob der Begriff des „melting pot“ jemals dazu geeignet war, kulturelle Transgressionsprozesse adäquat zu benennen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) grenzt sich mit Vorliebe von dem Begriff ab: „Bereits seit 1988 hat Helmut Kohl bewusst auf den Begriff Vereinigte Staaten von Europa verzichtet, weil viele Menschen bei diesem Begriff an die Vereinigten Staaten von Amerika mit dem Konzept des ‚melting pot of nations’ dachten“, schreibt sie auf der Website der europäischen Christdemokraten. Und weiter: „Wir Christlichen Demokraten wollen aber eben nicht alle regionalen und nationalen Eigenarten in Europa zusammenschmelzen, sondern wollen im Gegenteil die regionale und nationale Vielfalt unseres Kontinents in einer globalisierenden Welt sogar stärken, damit auch in Zukunft die Menschen nicht orientierungslos und entwurzelt werden (sic!), sondern sich weiterhin in ihrer näheren Heimat wohl fühlen können“ (3).

Auf das Programm der deutschen Ratspräsidentschaft übertragen heißt das: Neben Jubelarien auf die wirtschaftliche Potenz ihrer Kreativindustrien bleibt eine national bestimmte Perspektive auf Kultur der zweite entscheidende Wohlfühlfaktor der europäischen Kulturpolitik. Die Stärkung kultureller Vielfalt wird dabei 1:1 übersetzt mit der Festsetzung nationaler Identitäten. Da passt es ins Bild, dass sich die Ausstellung „Blicke auf Europa“ als ein künstlerischer Beitrag der deutschen Ratspräsidentschaft in Brüssel die „Wahrnehmung Europas in der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts“ zum Thema gemacht hat. Sie versucht, die Geschichte Deutschlands als eine „Geschichte der Kleinstaaten“ darzustellen, die „erst in ihrem Zusammenwirken eine kulturelle Einheit und Vielheit geformt“ hätten (4). Deutschland als Rollenmodell für Europa? Honi soit qui mal y pense.

Links

Kulturelle Vielfalt

Angela Merkel

Kulturstiftung des Bundes

Tim Schmalfeldt ist Kulturwissenschaftler und arbeitet als Redakteur in Bonn. Er lebt in Bonn und Berlin.

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